Ein Kater namens Sidi Brahim

Zeitreisen

Europa, 2020. Die Europäische Union hat die Aufhebung der Sommerzeit-Umstellung beschlossen, die letzte grosse Initiative von Jean Claude Juncker, Präsident der Europäischen Kommission, um die Hand­lungs­fähigkeit von Europa zu demonstrieren. Juncker war anschliessend abgetreten, allerdings erst nach Vollzug des Beschlusses, daher kann man das genaue Rücktrittsdatum nicht nennen.

Mit der Aufhebung der Sommerzeit-Umstellung hat die EU nämlich die Hoheit über die europäische Zeit verloren – jedem Land war anschliessend freigestellt, welche Zeitzone gelten solle. Die fleissigen Deutschen haben neben rund einem Viertel der anderen mitteleuropäischen Länder natürlich die ganzjährliche Sommerzeit eingeführt. Damit, dass sie nun eine Stunde länger arbeiten als der Rest von Europa, erhoffen sie sich, die wirtschaftliche Führung in der EU beizubehalten. In den nördlichen Ländern, vor allem in Skandinavien grauste es dem Volk natürlich davor, den ganzen Winter im Dunkeln zur Arbeit zu gehen, und sie haben die ganzjährige Winterzeit eingeführt – die Wirkung der Massnahme sei allerdings bescheiden, hört man aus Hammerfest, man gehe im Dezember trotz dieser Massnahme in der Dunkelheit zur Arbeit, ja man arbeite sogar den ganzen Tag in der Dunkelheit und komme im Dunkeln wieder heim. Daher ist dort bereits das Referendum gegen die Winterzeit und für die ganzjährige Polarkreis-Sommerzeit ergriffen worden. Die Regierungen von Polen und Ungarn wollten sich dem europäischen Verdikt natürlich nicht oppositionslos unterwerfen und haben ihre Uhren um eine Stunde vor die Sommerzeit eingestellt und sind damit Moskau wieder einen Schritt näher gerückt. Italien dagegen, welches schon seit einigen Jahren am Austritt aus der EU werkelt, hat die Winterzeit minus eine Stunde eingestellt, also beschlossen, erst aufzustehen, wenn die Deutschen bereits
beim Mittagessen sitzen. Die Produktivität ist durch diese Massnahme allerdings nicht gestiegen, wie man sich erhofft hatte, im Gegenteil stieg das Haushaltsdefizit auf über 10% des BIP, was die Lega aber nicht bekümmert, da die Schulden ja zu 100% aus Lire bestehen, die sie selbst drucken kann. Einen eher unerwarteten grossen Fortschritt hat die Zeitumstellung bei den Ferrovie dello Stato gebracht: die Hälfte aller Züge kommt nun pünktlich an, weil die Hauptverwaltung der Staatsbahnen noch nicht in der Lage war, die Zeitumstellung administrativ umzusetzen. Die Briten haben sich elegant vom Europäischen Zeitstreit gelöst, indem sie kurzerhand das Pint auch als Masseinheit für die Zeit eingeführt haben1.

Und die Schweiz? Da die Selbstbestimmungsinitiative den Bundesrat bereits vor der Liberalisierung der Zeit in Europa zu einer Lösung gezwungen hatte, hatte der Bundesrat beschlossen, sich in dieser Frage so nahe an Europa anzulehnen, wie es möglich war. Die Mitteleuropäische Zeit durfte allerdings nicht mehr als gültige Zeitzone gelten, da die SVP ansonsten eine Ablenkungs-Initiative zu lancieren drohte, man hat sich daher auf die Durchschnittseuropäische Zeit geeinigt, welche praktischerweise dazu führte, dass die Schweizer Uhren im Einklang mit den europäischen tickten - bis zum folgenschweren Entscheid der EU. Danach sind die Schweizer Uhren aufgrund dieses Entscheids gegenüber der vorherigen Winterzeit um exakt 16 Minuten und 23 Sekunden vorverschoben worden, das allerdings wirklich genau. Nachdem der Bundesrat bei den Rahmen­vertrags­verhandlungen in Brüssel mehrmals zu spät oder zu früh erschienen ist, hat er für sich entschieden, die Brüsselerzeit2 einzuführen. Zudem ist seither die Frage der Zeitregelung nun keine Aufgabe des Bundes mehr, sondern der Kantone. So gilt nun in einzelnen Kantonen Sommerzeit, in anderen Winterzeit, oder weiterhin die Durchschnittseuropäische

1Passend zur Sandwich Mean Time
2Chicory Mean Time
Zeit. Appenzell Innerrhoden pflegt als einziger Kanton sogar wieder die halbjährliche Zeitumstellung Sommer-/Winterzeit.

Den SBB bescherte der Föderalismus rekordverdächtige Reisezeiten von Zürich nach Bern von minus zwei Minuten. Dank geschicktem Marketing sind die Züge deshalb nun noch besser ausgelastet, vor allem von Japanern. In der Gegenrichtung sind sie dagegen leer, da fast zwei Stunden Reisezeit als Zumutung empfunden wird und man lieber wieder mit dem Auto steht.

Die Auswirkungen der Zeitzonen­libe­rali­sie­rung haben allerdings grosse Auswir­kungen auf die politische Landschaft in der Schweiz. Die Entscheide des Parlaments in Bern sind generell noch weiter SVP-lastig ausgefallen als bisher, da die Zürcher und Aargauer meistens schon abgestimmt haben, wenn die Romands und Tessiner erst aufgestanden sind. Die Sitzungen fast aller Ständerätlichen Kommissionen können auf der Latrine stattfinden, da genau so wenige teilnehmen wie an Stephen Hawkins Party für Zeitreisende. Die SVP kann daher die Annahme der Selbstbestimmungsinitiative auch als persönlichen Erfolg für sich und ihren langjährigen Kampf gegen funktionierende staatliche Institutionen sehen. Um diesen Erfolg zu konsolidieren, plant sie nun eine Rückkommentsantragsverbotsinitiative.

Aber auch für das Volk hat das Ganze praktische Seiten. Weihnachten kann jeder feiern, wann es ihm passt, es ist letztlich eine Frage, wie weit man die Uhr vor- oder zurückstellt. Manche feiern unterdessen das ganze Jahr Weihnachten.

So, und ich muss ins Bett, das Frühstück steht auf dem Tisch.
Clockwork Strawberry

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