Ein Kater namens Sidi Brahim

Inkontinentalverschiebungen

Mein Weltbild erlitt einen weiteren Knacks, als ich davon erfuhr, dass die starken Männer in ihren Stahlkarossen, also die Formel-1-Rennfahrer, stolze Nachfahren der Gladiatoren, Ritter, Cowboys, Astronauten und Popanzen, zwischendurch auch mal für kleine Jungs müssen. Das ginge ja noch, aber dass sie das mitten in ihren Rennen müssen. Und dann auch tun. Ohne auszusteigen! Ohne die Hose zu öffnen! Übrigens geht das nicht beim Bremsen, weil man zu fest in den Sitzgurt gepresst wird. Darum geben die also so viel Gas. Manche freuen sich dann noch diebisch wie James Bond, dass der nachfolgende drängelnde Konkurrent auf der Urinlache ausrutscht. Starke Männer, schwache Blasen, nasse Füsse. Helden? Ach was: Sitzpinkler. Jetzt ist mir auch klar, warum Team Sauber so heisst. Und warum nach dem Rennen so mit dem Champagner rumgespritzt wird: Verdünnungsstrategie.

Das erinnert mich an Neil Armstrongs berühmten Worte, als er endlich den ersten menschlichen Fuss auf den Mond setzte: «Ich muss mal!». Der Fuss war da noch trocken, aber nicht mehr lange. Das passte natürlich irgendwie nicht ganz zu diesem geschichts­trächtigen Moment, daher wurde das später im Studio noch mal neu gedreht, mit leicht abgeändertem Text.

Ja, auch das wird plötzlich klar: warum die Filme mit Winnetou, Superman, Rambo, Asterix, Schawinski etc. durchschnittlich nie länger als eineinhalb bis zwei Stunden dauern. Wegen der Dauerpräsenz können die Helden schlecht mal wegtreten, und irgendwann ist die Blase voll.

Zum Glück bin ich ein Mann, der nicht dem Heldentum verpflichtet ist. Ich erlaube mir, in gebührenden Abständen meine Geschäfte ganz regulär zu erledigen, auch im Sitzen, aber mit runtergelassener Hose. In den Anzug zu pinkeln spare ich mir auf für dann,
wenn ich im Pflegeheim bin und die vollen Hosen und Schuhe nicht mehr selber wechseln muss, weil ich schliesslich eh dafür zahle und schliesslich auch was will für’s Geld.

Das Thema Inkontinenz ist jedoch nicht nur bei Sportlern, Helden und im Altersheim vordringlich. Weniger bekannt, aber trotzdem problematisch ist die juvenile Inkontinenz, genauer: Trockeninkontinenz. Erste Symptome treten in den ersten Lebensjahren auf und sehen gegenteilig aus wie die klassische Altersinkontinenz: Die Windel, die man am Montagmorgen dem Kind angelegt hat, ist am Freitagabend immer noch trocken. Man kontrolliert noch mal, wo genau die Windel gesessen hat. Sie war nicht auf dem Kopf. Soweit ganz praktisch, wir sind damals mit zwölf Monatswindeln im Jahr durchgekommen. Im späteren Alter fällt einem dann auf, dass das Kind nach dem Gutenachtkuss, der im Übrigen gar nicht übermässig feucht war, noch sieben bis acht Mal aus dem eigentlich abgedunkelt sein sollenden Zimmer auf die Toilette schleicht. Man schiebt das zunächst auf die nächtliche Asterix- und Winnetou-Lektüre, bis Phase drei eintritt.

In dieser Phase ändern sich die Symptome dramatisch. Die Inkontinenz betrifft dann nicht mehr die Blase, sondern vielmehr die Nase. Dauernd muss diese geschnäuzt werden, und zwar mit einem Papiertaschen­tuch, dass nach dieser einmaligen Verwen­dung dann irgendwo hingesteckt, auf den Boden geworfen oder sonst liegen gelassen wird. Man nennt diese Phase daher auch die Tempo-Phase, die nichts zu tun hat mit der Beschleunigung der Formel-1-Rennfahrer in der Schlussgeraden. Betroffene in der Tempo-Phase und deren Angehörige erkennt man leicht an weissen Flocken auf dem schwarzen Pullover, weil dieser seine Feuchterneuerung meistens mit ein paar Kollegen aus der Tempo-Familie gemeinsam durchführen muss. In einer Familie, in der Teenager wohnen, bilden Tempotaschentücher häufig die 11. Plage, wie die Heuschrecken, nur in Weiss. Wie Wollläuse kleben sie überall eklig rum:
Auf dem väterlichen Schreibtisch, an der Mathe-Probe, in den Socken, am Kleiderbügel, im Zahnputzbecher, auf der Strasse und im Kühlschrank. Ja, sie sollen sogar ganze Inseln mitten im Atlantik bilden, sich dort unflätig benehmen, wüste Lieder singen, saufen und mit den Kokosnüssen kegeln. Es gibt nur einen Ort, den sie konsequent meiden wie die Pest: den Mülleimer. Auch wenn sie schon angeschmud­delt sind: Immer kann man sie noch für was brauchen: das ausgelaufene Joghurt abtupfen, Schuhe putzen, in die Ohren stecken, wenn Mama von Aufräumen spricht, die abgesprungene Velokette wieder aufs Zahnrad heben und die Spuren der Katzenzunge auf der Butter verwischen, in der genannten Reihenfolge. Danach könnte man sie eventuell noch dazu verwenden, einen geplatzten Robidog-Sack zu flicken, also bleiben sie zumindest in der Hosentasche.

Diese Woche habe ich ein Exemplar in meinem selbstgemachten Mittagssandwich gefunden, wohl eine Verwechslung mit dem Camembert, von ähnlicher Farbe und Konsistenz, also wahrscheinlich am Ende des obgenannten Recyclingprozesses, aber wenigstens vor der Eventualität und nicht allzu trocken – ich hasse nämlich trockene Sandwiches. Die weisse Gefahr ist in aller Munde, nun auch in meinem. Mir war allerdings nicht klar, warum das Exemplar nicht ordnungsgemäss in einer Hosentasche oder in der Waschmaschine war. Ich habe deshalb zu einer drastischen Massnahme gegriffen: Ich habe es einfach in den Mülleimer geworfen. Kurz darauf habe ich natürlich vor der Haustür einen geplatzten Robidog-Sack aufgefunden, von einem liebenswürdigen Passanten hinterlassen. Dumm gelaufen!
Pinocchio

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