Ein Kater namens Sidi Brahim

Die Erfahrung der Schweiz

Ich staune immer wieder, wie früh die Leute ihre Ferien planen. In unserem Bekannten­kreis jedenfalls gibt es zahllose Leute, die bereits zwei Wochen vor den grossen Sommer­ferien wissen, wohin sie fahren werden. Und dann stoisch dort im Regen ausharren, Postkarten schreiben und auf dem Internet neidisch auf das Azorenhoch zuhause starren. Wirklich vorsorgende Eltern buchen ja nicht nur den Kita-Platz, sondern auch die Mallorca-Ferien für ihr Kind und seine Familie (mit Annullations­kosten­versicherung für den Scheidungs­fall), bevor sie zusammen ins Bett steigen. Wir hingegen wissen manchmal am Tag vor der Abreise noch nicht so genau, wohin es geht. Schöne Ecken gibt’s ja auch in der Nähe zuhauf, uns zieht es nicht unbedingt in die weite Welt. Die grossen Reiseabenteuer der Welt – man kann sie eh nicht wieder­holen. Unwiderruflich wurde Amerika auf der Suche nach dem schnellsten Indernett von Kolumbus entdeckt und für die Welt geöffnet1. Unwiederholbar ist die Reise von Nicolas Bouvier im Fiat Topolino nach Afghanistan2. Und auch mit Mofa über den Gotthard hat irgendwie seinen Reiz verloren, seitdem es mit dem Auto durch den Gotthard mehr Mut und Zeit braucht3. Mit dem Kamel an den Nordpol? Schon zig Kamele waren dort, die meisten haben dabei kalte Füsse gekriegt. Mit dem Schlitten durch die Sahara? Auch schon gemacht: Paris-Dakar. Mit dem Staubsauger durchs Teenagerzimmer? Etwas abenteuerlicher zwar, aber auch nicht wirklich kribbelig.

Auch dieses Jahr war wieder etwas Sponta­neität angesagt, da wir erst am Samstag nach Schulschluss beim Einkauf in der Migros merkten, dass wir die einzigen Zurück­geblie­benen waren. Nur das Altersheim stritt sich noch um die letzte unreife Tomate (der mit dem Stock hat sie gewonnen), sonst gähnende Leere im ganzen Laden, auf dem Dorfplatz wehte ein trauriger Wind die Konfetti vom Schulabschlussfest und die

1Wobei sich Entdecker gewisse Chancen ausrechnen können, dass Amerika wieder zum weissen oder mindestens schmutzgrauen Fleck auf der Weltkarte werden wird
2«Die Erfahrung der Welt»
3Praktisch für Leute, die sich gerne vor der Detailplanung der Aktivitäten am Ferienziel drücken
Skelette der zurückgebliebenen Hunde zu einem Haufen an der rostenden Bushaltestelle zusammen, an der auf einem vergilbten Zettel die Geschäftsleitung von Mühleberg die baldige Stromabschaltung ankündigte. Nichts wie weg, schrie die Landschaft, aber unsere Fahrräder hatten so viel Luft wie ein Asthma­tiker im Teppichbasar. Guter Rat war teuer.

Immerhin: das Internet lief noch. Die SBB-Seite bot allerdings nur noch Sparbillette ins Schwarze Loch an, und das auch nur noch einfach. Auf der Bernmobil-Seite kam mir die zündende Idee.

Zum Glück kann ich ja programmieren, der kleine Hack war dank dem Pioniercharakter dieses ÖV-Projekts noch einfacher als das Kidnapping des E-Voting-Systems der Post oder die Unterwanderung des Britischen Unterhauses durch Rohrspatzen und Stroh­männer. Die Familie packte unterdessen einen grossen Picnic-Korb und trommelte ein paar andere zurückgebliebene Freunde zusammen, die ebenfalls nicht Auto fahren. Um zehn trafen wir uns vor unserem Haus, um zehn nach zehn surrte der Matte-Schnägg, der erste selbstfahrende Kleinbus der Stadt Bern, heran, und wir stiegen ein.

200 Kilometer Reichweite – das sollte reichen bis an den Utoquai am Zürichsee, wo wir eine Sause abhalten wollten. Da wir ja Zeit hatten, beschlossen wir es gemütlich zu nehmen und bogen auf die A1 Richtung Zürich ein. Das ging auch wirklich gemütlich, wir konnten mit den anderen Autos problemlos mithalten bis nach dem Bareggtunnel, wo sich der Stau unerwarteterweise auflöste. Da unser Gefährt aber nicht auf mehr als 20 Stundenkilometer kommt und wie ein roter Pudel von vorne wie von hinten gleich aussieht, hielten uns viele Autofahrer für Geisterfahrer, und schon bald hatten wir einen der neuen Streifenwagen der Berner Stadtpolizei hinter uns, die uns per Lautsprecher zum Anhalten auf dem Pannen­streifen aufforderten. Das war leichter gesagt als getan – das Ding war ja selbstfahrend und die Route hatte ich fix einprogrammiert. Eine Konsole oder dergleichen zum selbst Steuern konnten wir nirgends ausmachen. Da war nur ein roter Knopf neben dem Picnic-Korb, aber wir wollten ja keinen Nuklearkrieg auslösen. Das machten wir per Handzeichen aus der Heckscheibe heraus den Polizisten klar, denen schliesslich nichts anderes übrigblieb, als uns mit Blaulicht bis Zürich zu eskortieren.
Auch das ging ganz gut bis zur Autobahn­ausfahrt, wo wir im Schneckentempo in die Stadt einfielen. Bei der ersten Ampel allerdings zeigte sich, dass unser Berner Matte-Schnägg Ampeln noch nicht so richtig kann, vor allem Zürcher Ampeln nicht. Nach der dritten Ampel hatten wir mit drei blinden Passagieren an der Frontscheibe und fünf auf dem Dach die zugelassene Personenkapazität bereits klar überschritten, nach der fünften Ampel sahen wir aus wie eine Vorortsbahn in Kalkutta, und wir begannen zu fürchten, dass das eingepackte Picnic nicht für alle reichen würde. Am Stadelhofenplatz trat ein gravierender Programmierfehler oder die fatale Leidenschaft des entsprechenden Programmierers bei einem der Sensoren von unserem Gefährt zutage: statt rechts abzubiegen steuerte unser Schnäggli stracks in die Schaufensterscheibe der Lindt & Sprüngli-Filiale hinein, mitten in die Luxembugerli-Auslage. Zum Glück kurvte in dem Moment ein Lieferroboter der Post um die Ecke, der offensichtlich auch den Utoquai zum Ziel hatte. Dieser übernahm schwanz­wedelnd die Führung, hob zwar mal links, mal rechts am Randstein noch ein Hinterrad, liess sich zwischendurch von einem kurzsichtigen Grosi streicheln, brachte aber ansonsten einigermassen verkehrsregelkonform die Restetappe zum Ziel hinter sich. Selbst die Streetparade-gewohnten Zürcher staunten nicht schlecht, als am Seeufer dieser seltsame Konvoi aus einem Postroboter, einem süsslich dekorierten völlig überladenen knallroten selbstfahrenden Bus und einem blauchlichtbestückten Rennwagen eintrudelte. Und wir waren froh, als wir aus dem mittlerweile stark überhitzten «Toaster», wie unser Gefährt von den Einheimischen auch genannt wird, herauskamen.

Das Picnic reichte dann tatsächlich für alle, nicht etwa, weil Jesus dabei gewesen wäre, sondern einfach dank der vielen klebengebliebenen Luxemburgerli, und dank der Ladung Red Bull, die der Postroboter geladen hatte und die wir der Polizei spendierten.
Snailrun

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