Ein Kater namens Sidi Brahim

Kleine Kulturgeschichte des Taschentuchknotens

Gestern bin ich unschön erwacht. Der Grund war der, dass mir, schon im Bett liegend, eingefallen war, dass ich für den darauf­folgenden Tag unbedingt noch etwas einpacken musste. Noch mal aufstehen, Licht anmachen und das Vergessene einzupacken hätte verhindert, die bereits erfolgreich aufgegleisten Schlafphasen in ihrer natürlichen und wissenschaftlich anerkannten Reihenfolge zu absolvieren, also verzichtete ich darauf und machte stattdessen einen Knoten in das Taschentuch.

Das heisst, ich wollte einen Knoten in das Taschentuch machen. Da ich mich aber als weltoffener Mensch längst dem aktuellen Modediktat gebeugt hatte und statt der altväterlichen Stofftaschentücher nur noch solche aus Zellulose benütze und sich diese leider nicht verknoten lassen, machte ich den Knoten halt in das linke Bein des Pyjamas. Deswegen musste ich nun mit angewinkeltem Knie in das Pyjama kriechen, dessen Nähte bedrohlich krachten. Ich kämpfte die ganze Nacht gegen die einschlafenden Zehen und Alpträume, in denen ich rückwärts auf einem stolzen Dreirad-Araber sitzend durch Marlboro-Canyons preschte auf der Suche nach dem Schatz der Timbabatschen. Als ich die Ausfahrt zum Silbersee nehmen wollte, merkte ich zu spät, dass ich, weil verkehrt sitzend, die Sporen auf der falschen Seite gegeben hatte und landete auf einer Ameisenstrasse, die zu einem Holzbein führte. Beim Versuch, den Knoten in diesem zu lösen und es anschliessend anzuziehen, verhedderte ich mich in einer Kette, zog versehentlich den Stöpsel und der ganze Silbersee lief aus. Plötzlich hatte ich enormen Harndrang, und auf dem Seegrund tauchte ein blinkendes Heineken-Leuchtschild auf, ich erwachte schweissgebadet und hatte keine Ahnung mehr, an was ich mich erinnern wollte.

Das Stofftaschentuch ist neben der Eselsbrücke und dem Hippocampus die wichtigste Erfindung der Menschheit, um
Teufelsritte zur Erhaltung der Erinnerung wie den obigen zu vermeiden. Die Römer kannten es noch nicht, und wer einen Knoten in die Toga machte, galt als Hippie. Die gab es damals noch nicht und waren deswegen noch stärker gesellschaftlich geächtet als 2000 Jahre später. Sie mussten daher jeweils mühselig Steintafeln meisseln, um dringende Erledigungen nicht zu vergessen, und diese mit sich herumschleppen. Darauf stand dann zum Beispiel «lactem emere»1 oder «matrem invoca ut tibi pergamentum nasalis lavat»2 oder «dikurante bissifil sifil aufirorum»3. Solche Tafeln machte dann natürlich kaum einer, weil es viel zu aufwändig war, und es war kein Wunder, dass niemand die Kühe molk und Rom langsam unterging und vergessen wurde. Die wenigen Römer, die man mit solchen Tafeln gefunden hat, waren allesamt tot. Daher gilt Latein auch als tote Sprache.

Im Mittelalter dann kam langsam das Taschentuch auf. Es diente verliebten Rittern als Quittung für die Angebetete, die sie bei ihren Kriegszügen zuhause lassen mussten, und gleichzeitig - damals noch ohne Knoten - als Reminder an dieselbe. Mit Blut und Schweiss der geschlagenen Schlachten getränkt wurde das Taschentuch dann der Angebeteten zurückgebracht, die es dann erst mal in den Wäschekorb warf.

Erst im 18. Jahrhundert wurde das Taschen­tuch auch zum Naseputzen verwendet, es wurde zum Schnupftuch. Zeitgleich entstand auch der Knoten im Taschentuch. Frühere Forscher auf diesem Feld vermuteten, dass der Knoten das Herausfliessen der Nasen­ernte aus dem Tuch in die Hosentasche verhindern sollte. Neuste anthropologische Untersuchungen belegen jedoch, dass diese Verwendungsart des Tüchleins ebenfalls mit dem Zeitpunkt zusammenfällt, in welchem das menschliche Hirnvolumen, insbesondere das Erin­nerungs­vermögen erstmals wieder rückläufig ist. Der Schluss liegt nahe, dass das Rotzen ins Stofftüchlein vermutlich zu

1Milch einkaufen
2Mutter anrufen, dass sie dir das Nasenpergament wäscht
3Vacca currens in aurem cecidit
exzessiv praktiziert wird und die Bemühungen der Evolution bezüglich der Gehirnent­wick­lung auf mechanische Weise zunichtemacht. Der Knoten musste die überlebenswichtige Funktion des Gedächtnisses übernehmen und diente demzufolge als Hippocampusprothese. Gestützt wird diese These auch durch die Tatsache, dass ebenfalls zeitgleich die industrielle Revolution einsetzte, welche nach einigen Irrwegen schliesslich zur Entwicklung des digitalen Taschentuchknotenersatzes führte, dem Smartphone, welches ebenfalls in der Hosentasche versorgt wird. Diese Entwicklung wiederum stellte sich als ein Glücksfall heraus, als evolutionäre Glanz­ersatzleistung, weil die erfolgreiche weltweite Promotion des 3G-Taschentuchs der Marke Tempo aus Zellulose (nach Stein und Stoff) das hemmungslose Rumrotzen eher noch förderte – das Waschen entfiel nun – jedoch die Knotenbildung eben stark behinderte bis verunmöglichte, ein Ersatz für den Knoten also dringend nötig wurde. Ungelöst bleibt allerdings die Frage, mit welchen Mitteln verhindert werden kann, dass man vergisst, das Smartphone einzustecken. Der Knoten im Kopfhörerkabel wurde spätestens nach der Einführung der Bluetooth-Kopfhörer obsolet, und selbst die Smartphones der neusten Generationen sind höchstens faltbar, aber nicht verknotbar. Findige Leute führen ihr Smartphone daher in einem Robidog-Säckchen mit sich herum. Ebenso ungelöst bleibt die Frage, wie man sicher erkennt, dass man in den richtigen Hosensack-Gegenstand hineinrotzt. Hier scheint die Unterscheidung zwischen Tempo und Twitter noch nicht ganz allen Leuten klar zu sein.

Diese ganze Entwicklung hat die Menschheit ziemlich überrollt. Kollateralschäden waren daher auch nicht ganz vermeidbar. Opfer sind vor allem ältere Leute, welche zwar den Umstieg aufs Tempo-Taschentuch noch gemeistert, denjenigen auf das Smartphone jedoch verpasst haben und nun in einem Demenzpflegeheim leben müssen. Da bin ich ja froh, habe ich noch ein Pyjama!
Dementia Hippopotamus

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