Ein Kater namens Sidi Brahim

Cops-20

Unterdessen habe ich rausgefunden, woher der grosse Bedarf an WC-Papier kommt: Es machten ja alle, vom Piloten bis zur Prostituierten, von der Panflötenlehrerin bis zum Pinsel­borsten­qualitäts­sicherungs­manager, ja sogar die Putzfrau ganz plötzlich Home Office, und manchmal muss man ja was ausdrucken. Und was zuhause zwischen Kinderhüten, Kochen und Katzenkistchen leeren so entsteht - seien wir doch ehrlich - verdient es nicht immer, gleich auf Hochglanzpapier gedruckt zu werden.

Die letzten Wochen waren schlimm. Nicht nur wegen Covid-19, der vom Coronavirus ausgelösten Lungenkrankheit, sondern vielmehr wegen der vom Coronavirus ausgelösten Psychose, Cops-20 genannt - Corona Psychosis 2020. Wie Covid-19 hat sich Cops-20 rasend schnell verbreitet. Die Symptome: Misstrauen, Angst, Neid, Rechthaberei, Privatpolizei.

Vor nicht so langer Zeit konnte man sich noch frei bewegen. In jeder Hinsicht. Wenn man nackig rumlief, wurde man vielleicht komisch angeschaut, aber es kam selten vor, dass man von einem Passanten angesprochen wurde, der dann sagte: «Hallo, Sie haben da was an den Füssen» und auf die Schuhe zeigte. Man erwiderte einfach: «Oh, da habe ich wohl was vergessen auszuziehen!». Damit war es aber auch schon getan. Heute ist das anders: Wenn man im öffentlichen Raum angezogen rumläuft, niest oder hustet (Corona ist kein natürlicher Feind der Birkenpollen), wenn man Bus fährt, Wanderschuhe trägt, einkaufen geht, mit Bargeld zahlt oder die Mutter besucht, wenden Passanten entsetzt den Blick ab, grüssen nicht zurück, beschimpfen einen, rufen die Polizei. Obwohl nichts von alle dem verboten ist im Gegensatz zum nackig rumlaufen, muss man sich plötzlich schuldig fühlen. Wegen anstössigem, unmoralischem Verhalten. Als hätte man Klopapier gekauft, Popel gegessen oder in die Schutzmaske gepupst. Oder als hätte man im Mittelalter lesen können, Twitter benutzt oder behauptet, die Erde sei rund und Gott homosexuell. Die Inquisition war dann meistens nicht weit, und so nah fühlt sie sich heute wieder an.

Wie im Mittelalter ist es auch heute wieder nicht einfach, zu wissen, was richtig und
erlaubt ist und was verboten bei Todesstrafe. Was du heute ungeniert machen darfst, macht dich morgen einen Kopf kürzer, oder umgekehrt. Eine Zeitlang galt: Stahlwolle und Schminke gehören zu den Gütern des täglichen Bedarfs, Unterhosen und Socken jedoch nicht. Ich bin da noch anders erzogen worden. Dann hiess es plötzlich: Wenn man Schraubenzieher verkauft, darf man auch Velos verkaufen, wenn man Salat im Angebot hat, darf man auch Hemden verkaufen. Wenn man aber Velos flickt, darf man keine Velos verkaufen, wenn man Massanzüge anmisst, darf man keine Hemden verkaufen. Weil sich in den Fachläden offensichtlich Viren und Menschen drängeln, während das im Bau- oder Supermarkt nicht geschehen könne, wohl dank der neuen 2 Meter langen Einkaufswagen. Und weil die Billigware in der Wühlkiste aus China stammt, wo Corona bereits per Dekret ausgestorben ist. Am Wochenende hat der Bundesrat sich umbesonnen und chinesische Unterhosen doch wieder verboten, um Wettbewerbs­verzerrungen zu vermeiden. Ausserdem wird das Social Distancing besser eingehalten, wenn die Unterwäsche nicht zu häufig gewechselt wird. Dafür sind jetzt Blumen und Akkubohrer erlaubt. Und ins Restaurant darf man auch bald wieder, nur Kannibalen dürfen dem Essen noch nicht näher als zwei Meter kommen.

Zahnärzte dürfen wieder arbeiten, müssen aber Massnahmen ergreifen, um zu «verhindern, dass zu viele Patienten auf einmal behandelt werden», wie der Präsident der Schweizer Zahnärzte-Gesellschaft sagt. Das ist mir auch recht. Ich habe es schon immer gehasst, wenn mein Zahnarzt parallel zu meiner Wurzelbehandlung noch gleich einer Patientin eine DH gemacht und seine Frau flachgelegt hat. Da hat in meinen Augen das Multitasking schon seine Grenzen. Jetzt habe ich ihn wieder ganz allein für mich und bin schon gespannt, wie er die Karies unter meiner Schutzmaske finden will. Wahr­scheinlich mit einer Extradosis Röntgen. Auch Coiffeusen dürfen wieder schnippeln. Die Frisurentrends der kommenden Saison sind schon gegeben: Die Coupe Berset war der einzige Haarschnitt, der auch während dem kompletten Lockendown erlaubt war, weil er auch ohne Coiffeur praktizierbar ist. Neu in Mode kommen wird wieder Vokuhila, da sich viele Coiffeure davor fürchten, die Gummibänder der Schutzmasken ihrer Kunden durchzuschneiden. Wahrscheinlich ist Kim Jong un von der Bildfläche verschwunden, weil er auf seinen Undercut beharrt hat.
Was mich ehrlich freut, dass Grosseltern jetzt doch wieder ihre Enkel umarmen und ihnen das Nutella aus dem Gesicht lecken dürfen, da Kinder nun doch nicht ansteckend sind. Jedenfalls Schweizer Kinder, für spanische Kinder scheint das nicht zuzutreffen. So wie Après-Ski-Fahren in Ischgl deutlich ansteckender war als in Åre, obwohl eigentlich Schweden und nicht Österreich die Prohibition gegen Infektionsmittel kennt. Überhaupt scheint der Virus eine ausgeprägte Neigung zu Nationalismen zu haben, wenn man die Massnahmen der Länder weltweit miteinander vergleicht. In Italien fiel er gerne Spaziergänger an, aber Hundebesitzer nicht, in Brasilien gibt er sich völlig harmlos, in Belgien gilt man schon als Corona-Todesopfer, wenn man beim Ableben Fieber hatte oder jemanden kannte, der jemanden kannte, der Corona hatte, oder man eigentlich sogar noch lebt, aber der Grossvater so einen kannte. In Amerika fragen sich die Leute nicht, wie man sich vor dem Virus schützt, sondern vielmehr vor dem Präsidenten. Aber hier gibt es Hoffnung auf Heilung. Seit Trump nämlich empfohlen hat, gegen den Virus Desinfektionsmittel direkt intravenös zu spritzen, steigt die Mortalität in seiner Stammwählerschaft rapide. Trump setzt in der Krise auf knallharte Regeln: «survival of the fittest». Hoffentlich gilt das auch für ihn.

Eins hat die Krise also sicher gezeigt: Mit der Gelassenheit und Intelligenz der höchstentwickelten Spezies der Erde kann es nicht so weit her sein. Der gesunde Menschenverstand? Ein Paradoxon! Stattdessen mit Schwarmdummheit sich und die Welt retten: Klopapier kaufen. Andere Leute im Bus beschimpfen, in dem man selbst sitzt. Regeln erlassen, ohne sich zu überlegen, ob sie überhaupt nützen können, nur um zu zeigen, dass man handelt. Diese Regeln im blinden Gehorsam befolgen. Tragt Masken! Trinkt Coca-Cola! Kauft nicht bei Juden! Der beste Beweis, dass es intelligentes ausserirdisches Leben gibt, ist, dass dieses bisher keinen Kontakt mit der Menschheit aufgenommen hat. Die nackte Wahrheit: Überheblichkeit und Unsterblichkeit haben der Unerheblichkeit und Übersterblichkeit Platz gemacht.

Auch ich bin ratlos. Ein Medikament gegen Corona wäre gut. Eins gegen unsere kollektive Handlungsunfähigkeit noch besser.
Comedi-21


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