Ein Kater namens Sidi Brahim

Blinde Passagiere

Reisen bildet. Ich reise gerne in die Berge zum Wandern, da gibt es immer wieder erstaunliche Entdeckungen zu machen. So entdeckte ich letzthin auf dem Wanderweg über den Meidpass, an dem es nur so von Berghamstern wimmelte, eine mit Steinen gepflasterte Partie. Ich vermutete, dass das die Überreste einer alten Römerstrasse waren, auf der die Römer von Gruben aus Eringer-Kuhfladen mit Elefanten nach Zinal transportiert haben, um sie dort zu trocknen, in Tongefässe einzufüllen und wieder zurück nach Gruben zu bringen. Die einfache Landbevölkerung dort wusste aber nichts damit anzufangen und brachte sie vermutlich weiter über den Augstbordpass nach Zermatt, wo sie die Edelvillen der römischen Kurgäste beheizten, die behaglich in ihren Caldarien sitzend den ersten mit Hastae bewehrten Alpinisten am Mons Tobleronis beim Abstürzen zusahen. Die ersten Vorboten des globalisierten Warenverkehrs und des Tourismus. Allerdings habe ich am Augstbord­pass keinerlei Spuren von Römern gefunden, welche meine Theorie untermauert hätten, nur vertrocknete Kuhfladen. Aber das will nichts heissen: An unsere Zivilisation wird wahrscheinlich dereinst auch nur noch eine Insel aus Plastikmüll im Atlantik erinnern.

Reisen ist aber mühsamer geworden. Vor rund vier Wochen wurde die Maskenpflicht in Zügen eingeführt. Zuvor war ich jeweils der einzige, der die überfüllten Züge mit Maulkorb betreten hatte und mich von allen wie ein Aussätziger anstarren lassen musste. Jetzt wo alle anderen Masken anhatten, sah ich nicht ein, warum ich noch eine tragen sollte. Also kaufte ich mir ein Schinken-Mozzarella-Sandwich als Tarnmaske, biss einmal hinein und legte es auf das Tischchen am Fenster. Denn wer im Zug isst oder trinkt, braucht keine Maske anzuhaben. Dieses angebissene Sandwich begleitete mich die nächsten vier Wochen lang treu in jedem Zug, welchen ich benutzte, und sass steinhart neben mir, abgesehen vom Mozzarella, der nach einer Woche sehr matschig geworden und grün angelaufen war und den ich deswegen diskret auf den Boden flutschen liess, wo ein Dackel einer Mitreisenden ihn auflutschte. Gott habe ihn selig! Dass das Sandwich zudem einen etwas strengen Geruch verbreitete, erleichterte mir ausserdem das social Distancing. Andererseits, das kennt man ja, baut man zu Dingen, die man länger bei sich führt
und seltsam riechen, mit der Zeit, ob man will oder nicht, eine persönliche Beziehung auf, ich nannte das Sandwich daher Brünhilde.

Bis letzten Freitag ging das gut. Wieder lag Brünhilde neben mir, die ältere Dame im Abteil gegenüber rümpfte diskret die Nase und stellte ihren Kaffeebecher ans Fenster. Ich hielt dem Kontrolleur meinen gültigen Fahrschein hin. Der brummelte: «Gut. Und haben Sie für Ihre Begleitung auch eine Fahrkarte?». «Was für eine Begleitung?» fragte ich erstaunt zurück. Der Kontrolleur nickte wortlos zu Brünhilde hin. «Seit wann muss man eine Fahrkarte für ein Sandwich lösen?» «Für das Sandwich nicht, aber für dessen Bewohner! Haben Sie eine Hundefahrkarte?». Jetzt schaute ich genauer hin. Tatsächlich schaute aus Brünhildes offenem Maul neugierig und braun schimmernd der Kopf einer Kakerlake heraus. «Das ist aber kein Hund! Das ist eine Blattella germanica oder auf Deutsch eine deutsche Schabe, aber sicher kein deutscher Schäfer­hund. Sie haben in der Grundschule in der Biologie wohl zu wenig aufgepasst. Hat es daher nur zum Fahrscheinkontrolleur gereicht? Komm, Adolf, geh wieder rein in den Bunker!» Ich stupste die Schabe sachte auf die Nase, so dass sie wieder in Brünhilde verschwand.

Die Gesichtszüge des Kontrolleurs verhärteten sich augenblicklich, und unter der Maske in der Höhe der Oberlippe glaubte ich den Schatten eines Schnauzes ausmachen zu können. «Für mitreisende Haustiere aller Art gelten dieselben Regelungen wie für Hunde.» bellte er mich an. «Die Tatsache, dass Sie Ihre Schabe Adolf nennen, beweist hinreichend, dass es sich um ein Haustier handelt. Es muss eine Fahrkarte zum halben Preis oder eine Hundetageskarte entrichtet werden.» «Nicht bei Hunden oder hunde­ähnlichen Küchenschaben mit einer Widerrist­höhe von weniger als 30 Zentimetern, sofern die betroffenen Subjekte in geeigneten Transportboxen, Körben oder anderen tiergerechten Behältern mitgeführt werden!» erwiderte ich in Kenntnis der einschlägigen Vorschriften. «Da Schaben bekanntlich Allesfresser sind, muss dieses Sandwich als tiergerechter Transportbehälter betrachtet werden.» Der Kontrolleur blieb hartnäckig: «Sollte es sich bei diesem Behälter tatsächlich um ein Sandwich handeln, haben Sie wahrscheinlich mindestens dreimal gegen das Gesetz verstossen: Erstens: Das Mitführen von gefährlichen Substanzen, und um eine solche handelt es sich wahrscheinlich bei Ihrem Sandwich, wenn man dessen desolaten Zustand berücksichtigt, ist gemäss
Verordnung über die Beförderung gefährlicher Güter mit Eisenbahnen und Seilbahnen nicht in Personenwagen, sondern nur in speziali­sierten Anhängern zulässig. Zweitens: ein solcher Transport bedarf einer Bewilligung des Bundesamts für Verkehr. Drittens: Das Mitführen von Tieren in Wagen mit Gastronomie-Angebot ist laut Tarifverordnung untersagt. Ausgenommen sind lediglich Blindenführ- und Hilfshunde. Darf ich bitte Ihre Gefahrenguttransportbewilligung und Ihren IV-Ausweis sehen?».

Ich wollte gerade die Junior-Karte meiner Tochter zücken, als Adolf, wohl ahnend, dass der heftige Wortwechsel sich auf ihn bezog, aus seinem Transportbehälter über das Sitzpolster in Richtung des gegenüber­liegenden Abteils flüchtete. Kreischend sprang die ältere Dame auf und warf dabei den Kaffeebecher um, der, wie mir erst jetzt auffiel, ziemlich zerknautscht aussah. In der braunen Pfütze, die sich am Boden ausbreitete, zappelte eine Kaulquappe. «Ach Kriemhilde, ich wusste gar nicht, dass du schwanger bist!» rief die Dame.

«Und viertens» fuhr der Kontrolleur nun an uns beide gewandt weiter, «wenn es sich hier tatsächlich um Transportbehälter für Kleinsthunde handeln sollte und nicht um Lebensmittel im engeren Sinne, unterliegen Sie beide der Maskentragepflicht. Sie sollten schleunigst eine Schutzmaske anziehen, ansonsten muss ich Sie bitten, in Lanzenhäusern auszusteigen».

Die ältere Dame zog eine Maske aus der Handtasche. Ich hatte mit diesem Fall nicht gerechnet und leider keine mit. Lanzenhäusern war wie erwartet an diesem Sonntagmorgen wie ausgestorben, ein Bahnhofbüffet gab es nicht, so dass die Idee, die etwas betagte Brünhilde durch einen frischeren Siegfried oder Ortlieb auszutau­schen, scheiterte. Ausser zwei, drei Bauern­häusern gab es hier nichts, nur eine Wiese neben dem Bahngleis mit einer Kuh darauf.

Mit dreissig Minuten Verspätung erreichte ich Schwarzenburg im nächsten Zug. Die Tarnung hatte funktioniert. Ehrlich gesagt roch Hannibal besser als Brünhilde. Trotzdem wusch ich mir in der Bahnhofstoilette den Kuhfladen aus dem Bart.
C-Ovid


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