Ein Kater namens Sidi Brahim

Vom Kontoristen zum Kontorsionisten

Es begann mit einem Kribbeln im rechten kleinen Finger. Das wuchs sich aus zu einem schmerzhaften Ziehen beim Griff zum Pausenapfel. In der Notaufnahme verwies man mich an die Physiotherapie. Ich musste nun täglich mehrmals Dehnübungen mit dem rechten kleinen Finger machen. Nur fehlte mir etwas die Zeit dazu, und im Büro war dauerndes Nasenbohren nicht so angesagt. Daher ging ich dazu über, überdurch­schnitt­lich viele Mails üppig mit Wörtern auszustatten, die ein ü enthülten, um den Finger genügend zü üben, ünd schreckte dabei auch vor gelegentlichen Schreibfehlern nicht zürück. Das nützte.

Allerdings fing nun der linke kleine Finger an wehzutün. Wahrscheinlich, weil er sich bewegungsmässig oder emotional vernachlässigt fühlte. Der Querulant quälte mich wohl, um Quarkwickel von mir zu kriegen, schrieb ich nun, um auch den linken kleinen Finger zu üben. Meine Mailtexte wurden noch abenteuerlicher im verzweifelten Versuch, Wörter mit q und ü in einem zu finden und einzubauen. Als die ersten Quotenkühe auftauchten, dachten meine Kollegen erstmals laut darüber nach, mich nach Quünsingen zu schicken. Da gab ich es auf, die Übungen während der Arbeit zu absolvieren und nutzte dafür die Pausen, indem ich Teetasse und Keks je mit abgespreiztem kleinem Finger hielt, die Queen hätte ihre Freude daran gehabt.
Dabei muss ich wohl instinktiv die Ellbogen zu weit hochgehalten haben, und nach ein paar Wochen wurde mein distinguiert-vornehmes durch ein sportlich-mondänes Flair abgelöst: Ich hatte nun links einen Golferellbogen und rechts einen Tennisarm. Dem sagt man heute auch Mausarm und ist nicht mehr das Schicksal der Bedürftigen, sondern der Staatsangestellten. Mit der Maus zu arbeiten wurde fast unerträglich, so dass ich sie nicht mehr auf dem Tisch, sondern auf der Glatze zu führen pflegte. Das hatte den Vorteil, dass ich bei besonders grossen Schmerzen darauf verzichten konnte, die Hand und den Arm überhaupt zu bewegen und die Maus mit geschickten Kopfbewegungen zu steuern lernte. Die verspannten Schultern und Nackenstarre waren natürlich nur eine Frage der Zeit, und vom vielen Scrollen kriegte ich als Zugabe eine Kopfnickermuskelzerrung. Es wurde Zeit, die einseitige Überbelastung des Oberkörpers am Arbeitsplatz durch eine Mehrbelastung des Unterkörpers auszugleichen.

Die Mausführung mit dem Hinterteil war um einiges schwieriger zu erlernen als die auf der Glatze. Erschwerend war auch die schlechte Sichtbarkeit des Bildschirms, wenn ich verkehrt herum zu diesem sitzen musste. Mit der Zeit schaffte ich aber erstaunliche Drehwinkel mit meinem Hals. Allerdings dann nicht immer ganz zurück. Den Nachhauseweg von der Arbeit musste ich manchmal rückwärts laufend zurücklegen. Um dabei nicht zu stolpern, gewöhnte ich mir eine chaplineske Gehweise an, die Schwankungen nach links oder rechts besser auffängt, was mein Körper aber eigenartigerweise als Fehlbelastung taxierte und mit zusätzlichen
Schmerzen in allen möglichen Gegenden quittierte. Es war wohl wieder mal Zeit für eine physiotherapeutische Behandlung.

Die Diagnose meines Physiotherapeuten, Hans Riegel aus Bonn, war dieselbe wie die meines Körpers, nur dass er noch den Zusatz «multiple» verwendete. Mein Körper sei schon fast ein gordischer Knoten, so verdreht sei alles, meinte er, als er mir zum Abschied den linken Fuss schüttelte und mir tief in den Bauchnabel schaute. Seither stehe ich jeden Morgen um vier auf und beginne mit den Übungen für die kleinen Finger, fahre dann mit Entspannungsübungen für Arme und Schultern weiter, hoch zum Kopf, Streckerchen und Nickerchen. Um zehn gibt es eine Kaffeepause, anschliessend muss ich halt noch mal mit den kleinen Fingern und den Ellbogen anfangen, bevor es langsam weiter runter gehen kann. Von vier bis sechs nachmittags sortiert der Physiotherapeut dann alles noch mal richtig ein, was bei meinen selbständigen Übungen an die falsche Stelle gerutscht ist. Dann weiter üben. Die grossen Zehen kommen meistens erst um zehn Uhr abends dran, kurz bevor es ins Bett geht. Die Büroarbeit musste ich natürlich aufgeben. Dafür habe ich jetzt einen tollen Job im Zirkus Knie. Ich muss einfach das alles vor Publikum machen. Dem scheint das aber zu gefallen, es lacht jedenfalls meistens. Und das Schöne: seit drei Monaten schlafe ich wieder ohne Schmerzen im rechten kleinen Finger.
Ichwolltichwär Eingummibär


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