Ein Kater namens Sidi Brahim

Sterneföifi

Immer dieser Weihnachtsstress!

Vollbepackt mit Weihnachtsgeschenken und völlig verwickelt in rosarot und goldig glänzende Schleifen stolperte und quetschte ich mich an Menschenmassen vorbei durch die Ausgangstüre des Globus auf die ebenso vollgestopfte Gasse und wurde beinahe vom Märlitram überfahren. Dieses war mit Fahrziel «Notfall» angeschrieben und tuckerte gemächlich Richtung Inselspital. Drin sassen die Menschen ebenso dicht gedrängt, alle trugen Masken über ihren Totenschädeln und rührten in den Fonduecaquelons, aus denen grauer Rauch aufstieg. Da erwachte ich…

Traum oder Alptraum? Aktuell noch teilweise Realität, aber wohl nicht mehr lange. Corona hat uns umerzogen. Im Frühling waren die Läden monatelang zu, und auch jetzt, zur besten sonntäglichen Einkaufszeit, sollen wir uns nicht in die Läden begeben, findet der Bundesrat, sondern vor so runden, nadelig-stacheligen Dingern hocken, die einen auch irgendwie an Coronaviren erinnern, einfach in grün und mit Kerzen drauf. In die sollen wir besinnlich hineinschauen, das ist dann weniger ansteckend und senkt den Blut­hoch­druck und die Übersterblichkeit. Allerdings laufen jetzt die Bestattungs­unternehmer dem Bundesrat die Türen ein und wollen Unter­stützungsgelder für das ausbleibende Geschäft. Dabei könnten die auch etwas kreativer sein und neue Geschäftsmodelle entwickeln. Zum Beispiel Adventskränze verkaufen.

Zum Glück gibt es das virtuelle Ersatz-Shopping. Dank dem kann man den Blick zwischendurch von den kerzengarnierten Virenersatzprodukten weg zum Bildschirm wenden und sich mit zwei, drei Klicks doch noch einen Glücksmoment runterladen und etwas Weihnachtsstimmung kriegen. Zwar fehlt die anregende Schlägerei an der Wühlkiste und das erhebende Gefühl, wenn man die junge Verkäuferin ausfragt, welcher der drei Rasierapparate nach ihrer Erfahrung für eine Grossmutter am geeignetsten wäre. Unnützes Zeug zusammenkaufen und nach der besinnlichen Zeit, wenn man lang genug darüber nachgedacht hat, wofür zum Teufel man das gekauft oder geschenkt gekriegt hat, wieder umtauschen und damit die Wirtschaft in Schwung halten, kann man trotzdem.

Das reale Einkaufen ist allerdings weniger stressig, weil ich dort vorwiegend wohltuend uninteressiertes Personal antreffe, welches von mir keine Bewertung für die
Hartweizengriesshörnli oder das Naturjoghurt wünscht oder mich nach meiner persönlichen Meinung zu den Unterhosen im Aktions­fünferpack befragt. Hier bin ich einfach nur ein Kunde, der sich nicht entscheiden kann und lästig im Weg steht, wenn das Personal den Nachschub an Hartweizengriesshörnli und Naturejoghurts einräumen will. Aber auch das Problem kann ich lösen, wenn ich vorher um die Ecke eine Apfelsaftflasche fallen lasse. Bei den Unterhosen habe ich eh meine Ruhe, solange ich im Laden bin, sie scheinen Ladenhüter zu sein. Die rächen sich erst zuhause dafür, dass ich sie nicht intensiver geprüft habe, bevor ich eine Beziehung mit ihnen eingegangen bin: Der Vorkriegszwillich kratz gar sehr, und im Nachhinein hätte ich ganz gerne meine persönliche Meinung abgegeben. Ich fürchte aber, dass es das Kassenfräulein nicht so interessiert, wo es kratzt.

Das anstrengende beim virtuellen Shopping ist, dass ich dort so furchtbar wichtig genommen werde. So viel Aufmerksamkeit bin ich gar nicht gewohnt. Ohne meine Meinung steht dort der Laden still. Schon wenn ich den Einkauf abgeschlossen habe, muss ich meine Meinung kundgeben, ob das Ambiente im virtuellen Shop angenehm und der Bezahlvorgang berauschend war. Ich würde dann gerne schreiben, dass ich lieber mehr weihnächtliche Chormusik hätte statt der Geräusche, die der Nachbar bei der Wohnungsrenovation verursacht, dass ich mir wünschte, dass die Katze auf der Suche nach Futter nicht zur Unzeit über die Enter-Taste latscht, und dass eine Kreditkarte mit nur einer einzigen Ziffer der noch verbleibenden Lebenserwartung der langjährigen Stammkundschaft entgegenkäme, aber ich kann wieder nur Sterne absondern, von eins bis fünf. Als nächstes werde ich um meine Meinung zur Ware befragt, häufig schon bevor sie eingetroffen ist, spätestens aber am Tag danach, und wenn ich meine Meinung nicht abliefere, kriege ich eine Bewertung als schlechter Kunde. Das bringt mich dann immer in unheimlichen Stress und ins Dilemma, da ich eigentlich teuren Bordeaux zum Einlagern bestellen wollte. Den kann ich aber erst bewerten, wenn es das Internet gar nicht mehr gibt. Jetzt bestelle ich halt statt­dessen immer nur Beaujolais, auch der billigste hat bei den Bewertungen der anderen Kunden nie weniger als 4 von 5 Sternen, also was solls, achte aber darauf, dass auch die Buchbestellung bei Amazon so rausgeht, dass Buch und Wein am selben Tag eintreffen. Dann gibt es halt wieder eine Nachtschicht, nach der ich dann die Bewertung für beides abgeben kann. Meistens behält dann aber der Moderator des E-Shop-Bewertungsforums meine Meinung für sich und gibt mir aus
Rache auch nur einen Stern, worauf ich natürlich das zerlesene Buch und den ange­brochenen Weinkanister erbost zurückschicke.

Vielleicht sind aber Waren mit nur einem Stern gar nicht vorgesehen in diesen Läden, vielleicht sind das Fünfsternblasen – keiner will ein schlechter Kunde sein und noch viel weniger wollen Kunden zugeben, ein schlechtes Produkt gekauft zu haben, so bewerten sich Kunden und Produkte gegenseitig immer nur mit Höchstnoten und alle hocken lieb und zufrieden in dieser Wohlfühl-Schrotthalde mit Sterneinflation und eigentlich braucht man Weihnachten gar nicht. So räsonnierte ich, als mein Blick vom Kranz schon wieder auf den Bildschirm wanderte. Oh doch! Stellte ich fest: In einem Wellness-Shop sah ich einen Artikel, der nur einen Stern hatte. Neugierig klickte ich drauf.

Nur ein Stern! Wie war das möglich? Die letzte Bewertung war 2020 Jahre alt, stellte ich fest, musste also zu einer Zeit abgegeben worden sein, wo die technischen Möglichkeiten noch beschränkt waren. Man musste die Sterne noch in Marmorplatten meisseln, das war mühsam und teuer. Also beschränkte man sich auf einen Stern, wenn man was zu sagen hatte, arbeitete den aber besonders schön aus. Dieser hier wirkte zwar etwas verstaubt, leuchtete dafür besonders hell und stammte von übereinstimmenden Bewertungen von drei Kunden namens Caspar, Melchior und Balthasar. Die Artikelbeschreibung tönte auch gar nicht so schlecht oder versuchte zumindest zu beruhigen: «Fürchtet euch nicht! Siehe ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus der Herr, in der Stadt Davids.». Weiter unten standen unter «Kunden haben sich auch angesehen» ein Ochs und ein Esel. Da fühlte ich mich angesprochen und bestellte sofort.

Ich war begeistert von diesem Artikel, weil er mich nicht bewerten wollte und auch nicht verlangte, dass ich ihn bewerte. Weil ich ihn einfach in eine Ecke stellen konnte und er mich in Ruhe liess und geduldig darauf wartete, dass ich ihn vielleicht irgend eines Tages mal brauchen würde oder auch nicht. Dort steht er jetzt mit seinem strahlenden Stern neben den grauen, völlig bewertungslosen Hartweizengriesshörnli, die sich jetzt in seinem Glanze sonnen dürfen. Und ich sitze daneben, schaue den beiden zu und löffle lächelnd mein Naturejoghurt.
Bifidus

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