Ein Kater namens Sidi Brahim

Der Zwiebelkuchen

Schuld ist ein belastendes, und auch irgendwie ein vages Gefühl. Manchmal kann man kaum verhindern, es sich aufzuladen. Zum Beispiel wenn man im trauten Familienkreis einen leckeren Zwiebelkuchen isst, bevor man ins Theater geht. Dieses Schuldgefühl überfällt einen dann völlig unerwartet, wenn in der dramatischen Peripetie der Protagonist stirbt, und man nicht weiss, ob das nun wegen der unsichtbaren Wolke aus dem Zuschauerraum passiert ist.

Gut, bei Sophokles stirbt meistens nur einer, manchmal auch ein paar mehr. Eine persönliche Angelegenheit. Im Theater stehen die paar wenigen beim Applaus auch wieder auf, spätestens dann interessiert es niemanden mehr, was wo entwichen ist.

Anders bei Corona. Da sterben Millionen und die Frage der Schuld ist akuter. Schon früh vertrat Agent Orange die Behauptung, dass Corona gar kein Fledermauspups war, sondern aus einem Biowaffenlabor in Wuhan entwichen ist. Das nahmen aber nur die ernst, die auch glauben, dass uns Flugzeugpupse unfruchtbar machen sollen, dass der israelische Staat Kamikazezecken in Gaza einsetzt und dass in unterirdischen Kinderfarmen Pipi gemolken und als Heineken verkauft wird. Alle anderen dachten für sich: Naja, wenn da irgendwas irgendwann aus einem Waffenlabor entwichen ist, dann wohl am ehesten der, der so Zeugs erzählt. Und wussten auch, dass das Bier Corona heisst.

Jetzt herrscht aber ein anderer Präsident in Amerika, einer mit deutlich weniger Unterhaltungswert, weil er einfach seinen Job macht. Auch der schliesst zumindest nicht aus, dass da tatsächlich was aus dem Labor entwichen ist, und zwar nicht sein Wahl­gegner und auch keine Riesenspinne. Beweise hat er zwar auch keine, aber er trinkt Heineken und trägt am Flughafen keinen Hut, wirkt also einigermassen vernünftig und
vertrauenswürdig. Für amerikanische Verhältnisse sogar seriös.

Ob Corona aus einem Labor entwichen ist, bleibt wohl noch lange unklar. Offensichtlich und unwiderlegbar hingegen ist, dass eine ganz andere Gefahr aus einem Labor entwichen ist, die sich noch viel schneller als Corona verbreitet, noch exponentieller. Apropos: Es ist erstaunlich, wie stark Corona zur Mathematisierung des Volkes beigetragen hat. Vor Corona wusste kein Schwein, was exponentiell ist. Die meisten hielten das für irgendwas Akademisches, was viel kostet und dann gehen die Steuern wieder hoch, nur die mit etwas mehr Bildung wussten, dass Exponentialismus was mit komischen Onkeln zu tun hat, die im Park den Mantel auftun und nichts drunter anhaben. Heute sind wir aufgeklärter und weitsichtiger. Die Kinder lösen in der Schule Matheaufgaben, bei der sie ein Fingernagelwachstum von 0.08 mm pro Tag in Kilometer pro Sekunde oder in Tonnen pro Senectute umrechnen müssen. Und wir wissen auch, dass wir Menschen selbst uns auf der Erde exponentiell verbreiten, also eine Gefahr sein müssen. Denn mit uns verbreitet sich auch das exponentiell, was aus uns entweicht. Nur die Erde verbreitet sich nicht exponentiell. Gegen diese ungesunde Einsicht wehren sich die Antiexponentialisten, die bestreiten, dass auch sie pupsen und die Erde rund ist. In ihrer Weltsicht gibt es drei unumstössliche Wahrheiten: Gott ist tot, die Erde ist eine Scheibe und Donald Trump hat die Wahlen gewonnen. Die Klimajugend lässt uns aber hoffen, den R-Wert dieser Spezies auf unter 1 zu kriegen, weil sie das Fingernagelwachstum unterdessen korrekt in globale Dimensionen umrechnen kann.

Aber zurück zu unserem Labor, das heisst zu dem, was entwichen ist: Ja, so langsam hat es sich zu Beginn verbreitet wie das Wachstum eines Fingernagels, unerträglich langsam, und alle warteten ungeduldig, dass es schneller ging. Obwohl es eigentlich auch wieder etwas sehr Unangenehmes ist. Etwas, was in den Arm sticht und weh tut. Und nach dem Stich seltsame Nebenwirkungen
verursacht. Bei den meisten wirkt es wie ein Sonnenstich. Manche reissen vor lauter Schmerz den rechten Arm hoch und brüllen laut, wieder andere so wie ich reden wirres Zeug, kommen also ohne Nebenwirkungen davon. Alle, die noch nicht gestochen sind, haben das latente Gefühl, von seltsamen Mutanten und Mutonkels umgeben zu sein. Sie fühlen sich unangenehm ausgegrenzt. Erst nach dem Stich ist man wieder dabei. Fühlt sich als Teil einer verschworenen Gemeinschaft, geht wieder gemeinsam an Fussballspiele, Konzerte, in den Fitnessclub oder an Neonazigeburtstagsfeiern. Aber was definiert diese Gemeinschaft? Kein Glauben an einen haarigen oder glatzköpfigen Gott, nicht das gemeinsame Leiden an Hausstauballergie oder Ausländerintoleranz oder die Freude an schnellen Autos, seltenen Blumen oder schönen Frauen, nein: ein Stich! Tönt wie ein B-Movie.

Und warum verbreitet sich das so schnell? Weil wir es im Gegensatz zu Corona nicht bekämpfen, sondern wollen. Weil es im Gegensatz zu Corona nicht tötet, sondern am Leben lässt. Dieser Piks ist der natürliche Feind von Corona, und deswegen lieben wir ihn. Wenn Corona mutiert, kriegt es so unappetitliche Namen wie B.1.1.7, P.1, B.1.617 oder P-26. Wenn der Piks mutiert, heisst er AstraZenica, Moderna oder Tarantula1. Das tönt schon viel besser, auch wenn es eher Namen von Cyborgs sind. An Corvette, Lamborghini oder Maserati, Calendula, Lilie oder Akelei, Claudia, Lilian oder Lorelei kommen die jedoch nicht heran.

Und vergessen wir nicht: Dieser Piks sorgt dafür, dass wir uns weiter exponentiell verbreiten können, aber leider nicht, dass wir nicht mehr pupsen.
Tarantula

1In Russland Sputnik, Sojus oder Gulag


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