Ein Kater namens Sidi Brahim

Tabula Rasa oder kulinarisches Tagebuch einer Reise nach Omikron

Tag 1: Es hat nichts genützt, mit WC-Reiniger zu gurgeln vor dem PCR-Test. Ich roch im Testzentrum wie ein Bahnhof-Scheisshaus nach dem täglichen Service. Trotzdem positiv. Hätte wohl noch schrubben sollen. Also ab in die Isolation! Wir haben leider enge Verhältnisse. Meine Frau muss ins Nebenzimmer umziehen. Dort macht sie Home Office und hat ihr Nachtlager unter dem Bürotisch. Manchmal haben ihre Berichte am Morgen besonders viele Fussnoten. Das freigewordene Ehebett ist der einzige zusätzliche Platz, der mir bleibt für die nächsten Tage.

Tag 2: Zum Frühstück Brot vom Dorfbeck. Seitdem in der Bäckerei auch die Postfiliale beheimatet ist, habe ich einen starken Verdacht, woher das Rohmaterial für die Backwaren kommt. Habe letzthin testweise ein Paket mit Katzenstreu gefüllt und an mich selbst aufgegeben. Dieses Paket habe ich zwei Tage später hinter der Bäckerei im Regen stehen gesehen, im Zustand der fortgeschrittenen Zersetzung. Seither kaufe ich keine Cremeschnitten mehr. Das Brot schmeckt auch irgendwie nach Härkingen.

Tag 3: Das Brot schmeckt heute nach gar nichts. Richtig wohltuend. Auch die Marmelade schmeckt zum Glück nicht mehr nach Meister Proper. Das Bahnhof-Scheisshaus war offensichtlich die letzte olfaktorische Katharsis.

Tag 4: Einkaufen geht nicht mehr. Also ab hinter das Eingemachte. Zum Glück ist die Gefriertruhe voll. Und wir hatten ja schon lange vor, die uralten Sachen, die sich dort eingenistet haben, zu beseitigen, bevor sie denkmalgeschützt werden. Ohne Geschmackssinn kann ich nun den unerschrockenen Ritter der Artus-Sage mimen, der sich heldenhaft auf die Lasagne eines früheren Jahrtausends stürzt. Gummiartig, ansonsten ganz in Ordnung. Dazu ein Gral voll Sidi Brahim. Die bösen Zungen haben schon recht: Der schmeckt genauso gut wie Château Lafitte-Rothschild, ist aber deutlich billiger.
Tag 5: Heute erfolgreich einen Eisbohrkern aus der untersten Schublade geholt und warm gemacht. Interessante Textur: Fädig, mit eingelagerten marschmallowartigen Klumpen. Mittels C14-Datierung rausgefunden, dass es Bärlauch aus dem Kambrium mit Ammonitenragout war. Vielleicht war es auch nur das Fieber.

Tag 6: Vor lauter Polarexpeditionen den Kühlschrank ganz vergessen. Da es mir etwas besser ging, habe ich die Reste des Weihnachtsmahls kreativ verarbeitet, und das schmeckte tatsächlich nach etwas. War dann aber doch der einzige Ritter an der Tafelrunde. Meine Hoffnung, der Essig und Chili würden das Fieber bekämpfen, war leider vergebens.

Tag 7: Habe geträumt, wie Amundsen gegen Parzival kämpft. Gegen Excalibur hätte Campbells Tomato Soup, mit dem Amundsen Parzival beworfen hat, allerdings keine Chance gehabt, wenn ihr nicht ein in Klopapier eingewickelter Hamster zur Hilfe geeilt wäre. Wohl doch nicht nur Fieber, sondern Bleivergiftung. Typische Symptome einer Arktisexpedition. Eva hat mir als Trost Günther zum Bettbegleiter gegeben.

Tag 8: Heute früh die leere Klopapierrolle verschlungen. Hielt sie versehentlich für ein Gipfeli vom Bäcker, bis mir einfiel, dass wir seit einer Woche nicht mehr dort waren. So schmeckte sie auch. Zum Glück sind noch Weihnachtsplätzchen vom Vorjahr aufgetaucht.

Tag 9: Diese Nacht von einer fantastischen Schwarzwäldertorte geträumt. Luftige Sahne mit Kirsch und Schokolade, Amarena-Kirschen, lecker schaumige Konsistenz. Mir lief das Wasser im Mund zusammen. Als ich erwachte, lag Günther neben mir auf dem Kissen und war ganz nass. In der Küche steht überraschenderweise ein Topf nahrhafte Suppe. Ausnahmsweise mal mit Heisshunger runtergeschlürft, allerdings ohne die Einlage, die zäh war. Nachmittags fragt meine Frau, wo der Topf mit der Küchenlappen-Kochwäsche ist.

Tag 10: Es geht besser. Endlich mal wieder spazieren gegangen Richtung Bäckerei. Ich bin dann aber vorsichtshalber nicht rein, sondern beim Eingang wieder umgekehrt.
Dort muss es passiert sein, aber ich habe es natürlich nicht bemerkt, bis mich Eva darauf aufmerksam gemacht hat: Hund mit Vibram-Profilbild.

Tag 11: Wieder Spaziergang zur Bäckerei. Diesmal habe ich aufgepasst, dass ich weder vor noch in der Bäckerei irgendwas Unappetitliches auflese. Mit Erfolg, schien mir. Eva hat dann aber doch wieder mit der Nase gerümpft. Da ich aber weder Cremeschnitten gekauft noch Hunde eingesammelt hatte, habe danach endlich mal geduscht und die Unterwäsche gewechselt.

Tag 12: Am Südpol angekommen. Die Gefriertruhe ist leer! Wurde auch höchste Zeit, denn der Geschmackssinn kommt langsam zurück. Die letzte Portion Rhabarber-Kompott mit Cervelat schmeckte tatsächlich nach etwas, nämlich nach dem grünen Kübel vor dem Haus. Eher übel. Habe danach mit Meister Proper gegurgelt und bin noch mal testen gegangen. Diesmal erfolgreich. Die mir angebotene Anstellung als Putzkraft im Testzentrum habe ich dennoch abgelehnt.

Tag 13: Das Bett meiner Frau ist saniert. Lasagne- und Bärlauchreste sind entsorgt, die Brotrinden habe ich in den Briefkasten geworfen, die Zeitungen der letzten Woche in die Bäckerei gebracht. Der Kaffee schmeckt noch scheusslich, passt aber gut zu den Cremeschnitten. Günther’s Kirschenaugen leuchten auch wieder, seit er gewaschen ist. Die letzten Flaschen Sidi Brahim werde ich verschenken. Einen Freund hat es gerade erwischt. Er freut sich sicher, wenn ich kurz vorbeikomme und was Stärkendes bringe. Dazu ein paar Weihnachtsplätzchen. Vom Vorjahr. Das Leben geht weiter.1
Smelly

1P.S. Sidi Brahim war bisher noch nicht Opfer von Corona, rechnet aber naturgemäss mit dem schlimmsten, nämlich dass er ohne Corona in die Bäckerei muss.

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