Ein Kater namens Sidi Brahim

Echinococcen und Isotopen

Haben Sie Angst, von einem Auto über­fah­ren zu werden oder sonst einen Verkehrs­tod zu erleiden? Waschen Sie die Erdbeeren immer vor dem Verzehr, weil Sie Angst haben, sich mit dem Fuchsbandwurm zu infizieren? Haben Sie Angst, Opfer eines AKW-Super-GAUs zu werden? Wovor haben Sie am meisten Angst?

Als Laie erfährt man über die Kern­tech­nologie und deren Risiken ja wenig. Zwar werden im Interesse der Öffentlichkeit Sicherheitsstudien an AKWs durchgeführt und diese wahrscheinlich auch mit öffentlichen Geldern finanziert, deren Veröffentlichung wird jedoch unter Androhungen juristischer Konsequenzen lange verhindert, wahrscheinlich, weil man der Öffentlichkeit zwar durchaus zumutet, neben so einem Risiko zu wohnen, aber nicht, es zu kennen. AKW-Betreiber betrachten es offensichtlich als vertrauens­bildende Massnahme, einen Kernmantel des Schweigens über ihre Aktivitäten zu betonieren. Nur gut, dass auch dieser langsam Risse kriegt.

Aber auch ohne Kenntnis solcher Studien können Sie unter simpler Zuhilfenahme von einigen öffentlich greifbaren statistischen Zahlen, etwas Wahrscheinlichkeitsrechnung und gesundem Menschenverstand zur erstaunlichen Erkenntnis gelangen: Wenn Sie etwas Wirksames für Ihr individuelles Überleben machen wollen, sollten Sie weder Gurten tragen noch Erdbeeren waschen, sondern vor dem BKW-Hauptsitz campieren!
Sie sollten nämlich etwa viermal so viel Angst haben, Opfer eines AKW- statt eines LKW-Unfalls zu werden, soviel wahrschein­licher ist dies nämlich. Und weit über hundertmal wahrscheinlicher ist es, dass sich an Ihren Erdbeeren Jod-Isotopen statt Fuchsbandwürmer tummeln.

Tschernobyl war 1986, Fukushima war 2011. Lassen wir mal die harmlosen GAUs
wie Three-Miles-Island (1979) oder Lokalereignisse wie Lucens (1969) beiseite und vergessen wir, dass in Fukushima gleich vier Reaktorblöcke hin sind, aber gehen wir - nach den neusten Erfahrungen - mal davon aus, dass auch Hochtechnologieländer von Super-GAUs betroffen sein können, dann lehrt uns die bisher gemachte Erfahrung, dass ca. alle 25 Jahre ein Super-GAU in einem AKW passiert. Weltweit gibt es zurzeit 212 laufende AKWs mit 442 Reaktorblöcken (ca. gleich viele wie 1986). Die Wahrscheinlichkeit, dass ein bestimmtes AKW, also z.B. Mühleberg, in einem bestimmten Jahr, z.B. 2012, einen Super-GAU produziert, beträgt somit 1/(212*25) = 1/5‘300. Mühleberg geht also rund alle 5000 Jahre in die Luft, bei 5000 AKWs geht jedes Jahr eines hopps. Auf einzelne Reaktorblöcke gerechnet beträgt die Wahrscheinlichkeit sogar etwa das doppelte. Zwar haben wir noch zu wenig Super-GAUs gehabt oder einfach zu wenig AKWs, um statistisch sauber zu extrapolieren, aber bis wir signifikante Daten haben, ist unser Planet nur noch mehr eine strahlende Sondermüllkugel, die sich kein intergalaktischer Pillendreher mehr unter die Klauen reissen möchte. Signifikant unterscheidet sich auf jeden Fall die Kernaussage der Kernkraftwerkbetreiber, dass mit so einem Unfall höchstens alle 10‘000 Jahre zu rechnen sei, von der erlebten Realität. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein angeblich derart seltenes Ereignis zweimal in 50 Jahren eintritt, beträgt lediglich 0.005%. Wie kommen die überhaupt auf diese Zahl? Aufgrund einer geheimgehaltenen Sicherheitsstudie?

In der Schweiz gibt es seit längerer Zeit rund 350 Verkehrstote und 10 Fuchsband­wurmfälle pro Jahr, bei einer Gesamtbevöl­kerung von zurzeit 8 Millionen Einwohnern. Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie im Jahr 2012 einen Verkehrstod erleiden, ist somit 350/8‘000‘000 = 1/22‘857, einen Fuchs­band­wurm als Mitbewohner zu kriegen 1/800‘000. Also ein Viertel bzw. weniger als ein Hundertstel so gross wie diejenige, dass Mühleberg im selben Jahr über die Aare geht. Wenn wir jetzt grosszügig die Lebenserwartung eines AKWs auf etwa
halb so lang schätzen wie die eines Menschen (gemäss Kraftwerkbetreibern und Behörden ist die Lebenserwartung von gewissen Kernkraftwerken ja eigentlich ewig, wahrscheinlich aufgrund einer geheimen Sicherheitsstudie berechnet), so ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie im Verkehr sterben, halb so gross wie die Wahrscheinlichkeit, dass in dem Ihrem Wohnort am nächsten liegenden Kernkraftkwerk irgendwann mal ein Super-GAU passiert. Bedenken Sie, dass jeder 25. gebaute Reaktorblock nach bisheriger Erfahrung nicht eines natürlichen Todes stirbt, sondern an einer Kernschmelze. Von 125 bisher weltweit stillgelegten Reaktorblöcken sind 5 so gestorben. Da müsste doch schon längst auf jeder Steckdose stehen: "Warnung des Bundesamts für Gesundheitswesen: Atomstrom kann das Aussehen Ihrer Nachfahren nachhaltig verändern!"

Aber denken wir doch etwas langfristiger, obwohl auch diese Fähigkeit eigentlich von der Kernkraftindustrie gepachtet wurde: Wie lange muss radioaktiver Abfall aus einem AKW gelagert werden, damit er nur noch halb so viel strahlt? Bei Plutonium 239 sind es 24‘000 Jahre. Nehmen wir mal an, dass die Reststrahlung von Atommüll bei ca. einem Promille unbedenklich ist, so müssen wir den Müll 240‘000 Jahre lang sicher lagern, also länger, als die Neandertaler gebraucht haben, um den aufrechten Gang und die Kernspaltung zu erfinden. Leider haben sie sich mit letzterem aber Zeit gelassen: hätten sie nämlich damals schon angefangen, Kernkraftwerke zu betreiben im gleichen Umfang und mit der gleichen Sicherheit wie heute, hätten wir bereits knapp 10‘000 Super-GAUs hinter uns: Wir hätten bereits genügend statistisches Material beisammen, um signifikante Aussagen darüber zu machen, wann unsere Welt kaputtgegangen ist.
Echinococcus fukushimiensis

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