Ein Kater namens Sidi Brahim

Freie Arztwahl

Sakrosankt ist in gewissen dogmatischen Kreisen - nein, nicht der Papst, sondern die freie Wahl des eigenen Arztes! Da die eigene körperliche Integrität empfindlich von ihr betroffen ist, ist sie von allen in vergangenen Revolutionen errungenen Freiheitsrechten die wichtigste, noch vor der freien Wahl des eigenen Königs, Scharfrichters oder Postboten oder allen anderen öffentlichen Dienstleistern. Die freie Arztwahl ist auch mindestens so heilig wie die wesentlichen Menschenrechte, zum Beispiel das Recht auf Deutschland sucht den Superstar, ein Handy und ein Burnout, das Recht auf einen Maschendraht­garten­zaun oder die Gleichberechtigung von Frau und Auto.

Der Anspruch auf die freie Arztwahl hat uralte rituelle Wurzeln, er stammt nämlich noch aus der Zeit, als unsere Vorfahren, die Nerds, beim Gehen noch die Hände am Boden nachschleiften und sich die Schürfungen anschliessend von hand­verlesenen Kräuterhexen mit Krötenspucke, Kokablättern und Koransprüchen heilen liessen. Spätere Nachfahren gewöhnten sich aus praktisch-evolutionären Gründen an den aufrechten Gang, damit die Hände nicht mehr so litten und das Handy nicht dauernd zu Bruch ging (Homo erectus), sie die Hände und das Handy auch praktisch brauchen konnten (Homo viagra, Homo mercator und Homo sapiens), verbrannten die überflüssig gewordenen Hexen und legten sich kompliziertere, elitärere Körperschäden namens Karpaltunnel­syndrom, Erektile Dysfunktion oder Gastrointestinaler melanomnitischer Hypoparathyreoidismus zu. Spätestens seit
dieser Zeit war es absolut überlebens­wichtig, dass man mit jemandem verschwägert war, dessen Mätresse eine Sekretärin zu Diensten hatte, deren Grossonkel schon einmal in Usbekistan eine Bäuerin kennengelernt hatte, deren Hund erfolgreich gegen gastrointestinalen melanomnitischen Hypoparathyreoidismus operiert und anschliessend vom lokalen Veterinär eingeschläfert worden ist. Dass ein von ebendieser unsäglicher Krankheit geplagter Posthominide sich natürlich die dergestalt überlieferte Fachkenntnis des genannten Hundes oder Veterinärs zu nutzen machen möchte, um zur Heilung oder wenigsten korrekten Aussprache seines Leidens zu gelangen, kann man weder mit Voodoo noch mit Schamanismus abtun, sondern entspricht einfach dem Zeitgeist der individuellen Placebo­optimierung. Hand auf den Herzinfarkt: Würden Sie sich in einem solchem Fall einfach dem nächstbesten Pillendreher anvertrauen? Nein! Sie beharren verständlicherweise auf der freien Arztwahl.

Stellen Sie sich vor: Sie leiden unter gastrointestinalem melanomnitischem Hypoparathyreoidismus, was Sie dank nächtelanger Internetrecherche in Microsoft-Benutzerforen, Ornithologenblogs und bei Wikipädiatern zweifelsfrei autodiagnostiziert haben, Sie gehen zu dem Ihnen von Amtes wegen zugeteilten stark kurzsichtigen, Mundgeruch verströmenden und buckligen Pflichthausarzt, der Sie auf der Couch Platz zu nehmen heisst, dann verlegen eine halbe Stunde in seinem Psychrembel blättert, um Sie dann auf gut Glück dem mit Berufsverbot belegten Gynäkologen zu überweisen, mit dem er soeben mittaggegessen hat. Auf Ihre Ausführungen, Sie wüssten genau, an was Sie litten und wer Sie heilen könnte,
antwortet er, weder der Veterinär noch der Hund, nicht einmal die usbekische Bäuerin seien in seinem Ärztenetzwerk und er bedaure, keine Überweisung an dieselben vornehmen zu können, da die Kasse das nicht übernehme. Nur die Mätresse kenne er, aber auch die übernehme die Kasse gemäss seiner Erfahrung nicht.

Sie sind aber gottseidank selber bei Kasse und lassen sich nicht abwimmeln, sondern den buckligen Hausarzt einfach in seinem Mief stehen. Mit dem Geld, welches Sie durch die Ignorierung der Überweisung an den Gynäkologen eingespart haben, buchen Sie den nächsten Easyjet-Flug nach Usbekistan. Gut, mit der freien Flugzeug- und Pilotenwahl klappt es bei dem Flug nicht so ganz, da müssen Sie einfach auf die professionelle und altruistische Erfahrung des Easyjet-CEO vertrauen. Tatsächlich gelingt dem besoffenen Piloten trotz Vogelgrippe und weggerissenem Seitenruder eine tadellose Notwasserung auf dem Aralsee, und Sie können die Bäuerin ausfindig machen. Die weiss dann auch tränenreich vom Schicksal ihres Hundes zu berichten und ist dank des mitgebrachten Wodkas schnell zur Operation an Ihnen bereit. Das und die Tatsache, dass in Usbekistan nur Birken auf dem Fünfjahresplan stehen, ersparen Ihnen immerhin den Rückflug und die freie Sargwahl.

Und die Kasse? Die nimmt die Bäuerin und den Piloten daraufhin nun doch noch in ihr Netzwerk auf. Aber davon haben Sie ja nichts mehr.
Dr. Viktor Krankenschwein

>home >archiv