Ein Kater namens Sidi Brahim

Post für den Kaiser von China

Wissen Sie noch, für was es die Post gibt? Ja, schon, die fahren mit dem Bus umher und verkaufen dir eine dritte Säule. Aber sonst?

Früher, so vor dreissig Jahren, hatte man zwischendurch noch das Bedürfnis, einem alten Freund (der damals noch nicht Friend hiess) oder Verwandten mal wieder einen Brief zu schreiben, zu berichten, was im letzten Halbjahr vorgefallen war und nachzufragen, wie es ihm gehe. Man stellte den Macintosh 64 ab, legte ein Kissen auf das Wandtelefon, zog die Fensterläden zu und griff zur Feder, biss zwei, drei Mal auf ihr herum und begann: "Lieber Hugo...". Zwei Stunden später hatte man auch wieder mal gründlich darüber nachgedacht, was einem im Leben so wichtig scheint, klebte das Couvert zufrieden zu und eine Marke darauf. Genau so einen Brief wollte ich wieder mal schreiben, an einen Freund in Olten, zwischen Bern und Zürich.

Mangels Briefschreibe-Praxis fehlten aber die Briefmarken im Haus, also erst mal los zur nächsten Poststelle. Das heisst zum Postshop. Poststellen sind ja heute vom Migros nur noch an der Farbe zu unterscheiden, dass sie meistens zu sind, dass man seine Einkäufe nicht auf ein Fliessband sondern auf einen Marmorschalter legt, dass man bevor man Schlange steht, eine Nummer ziehen muss und dass es keinen alten Salat zu kaufen gibt. Ansonsten gibt es fast alles zu kaufen. Das macht die Orientierung in so einem Postshop auch nicht eben einfacher. Erst nachdem ich mich durch ein Labyrinth von Düngersäcken, Käselaibern und mit Lederfetzen und Ketten bekleideten Styroporpuppen gekämpft hatte, entdeckt ich im Hintergrund den Schalter mit einer langen Schlange davor. Als ich endlich an der Reihe war, konnte ich das blondgelockte Fräulein lange nicht verstehen, weil direkt hinter mir jemand eine Probefahrt mit einem Rasenmäher machte. Sie zeigte dann mit dem einen Finger nach oben auf eine Anzeigetafel, auf der "134776" stand und dann mit dem anderen Finger in die hintere rechte Ecke, in der eine Art Losautomat stand. Aha, ich hatte vergessen, eine Nummer zu ziehen. Also kämpfte ich mich nochmal durch die Düngersäcke, Rollkoffer und Badezimmergarnituren, nicht ganz unfroh, etwas Distanz vom Rasenmäher zu
kriegen, um eine Nummer zu ziehen. "135026". Das konnte ja noch dauern. Immerhin hatte ich so noch die Gelegenheit, etwas herumzuschnuppern. Eine freundlich lächelnde ältere Dame sass hinter einem Bücherstand und signierte Bücher zwischen Erdbeerkörbchen. Nachdem ich drei davon erstanden und gleich gelesen hatte, erschien endlich "135023" auf der Anzeigetafel, also höchste Zeit, sich Richtung Schalter durchzukämpfen. Nur noch drei Frauen waren vor mir, und ich hatte meine Nummer ja diesmal auf sicher in der Hand. Auch der Rasenmäher war mit Nummer 134998 verkauft und somit still geworden. Nummer 135023 brauchte dann doch etwas länger, bis die Zwillinge auf dem Marmortresen fertig gewickelt waren und das blondgelockte Fräulein die duftenden Windeln in eine gelbe Schachtel verpackt hatte, dafür gingen die kleinen Säckchen mit weissem Pulver für Nummer 135024 und das Tagesmenu für 135025 flott über die Bühne. Endlich war ich an der Reihe.

Diesen Blick werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Ich hätte genauso gut gefragt haben können, ob sie den Kaiser von China schon mal auf den Allerwertesten geküsst habe, was es bei Draculas zum Abendessen gäbe oder bei welchem Zahnarzt Madonna ihre dritten Zähne beziehe, das blondgelockte Fräulein hätte wohl kaum verwirrter dreingeschaut. "Eine A-Post-Marke?". Dann jedoch leuchteten ihre Augen auf, sie verschwand wühlend im Hintergrund und tauchte zehn Minuten später strahlend mit einem gezackten Etwas wieder auf. So wurde ich stolzer Besitzer einer Briefmarke, die für die Expo 1964 warb, ging nach Hause und beugte mich über das weisse Blatt Papier. Das heisst, nachdem ich nochmal zum Postshop zurückgekehrt war und mir einen Stylo gekauft hatte. Weit mehr als zwei Stunden waren nun schon vorbei, und die Fragen über den Sinn meines Lebens noch nicht annähernd beantwortet.

Nochmals zwei Stunden später dann aber schon. Ich musste aber dringend los, weil ich in Zürich einen Termin hatte, und packte den Brief gleich ein, in der Absicht, ihn bei der Bushaltestelle einzuwerfen.

Der Briefkasten an der Bushaltestelle war jedoch vor kurzem, wie die meisten anderen, aus Spargründen und weil immer nur Bierdosen und Kondome drin waren, aufgehoben worden und erst nach
massiven Protesten und tagelangen Demonstrationen der örtlichen Bevölkerung hinter der Toilette des Jungendtreffs wieder aufgestellt worden. Bis dorthin reichte es nun aber nicht mehr, so nahm ich den Brief halt mit zum Bahnhof, um ihn dort einzuwerfen. Ausser für Robidogs (grün), Pendlerzeitungen (grün) und für halbverzehrte Bic Macs (wieder grün, mit Aufschrift "Brot für Brüder") fand ich aber nirgends einen Einwurfbehältnis gelber Farbe.

Als der Zug ohne Halt im Oltener Bahnhof durchrauschte, meinte ich einen solchen erblickt zu haben. Im Zürcher Hauptbahnhof hatte es dann deren gar zwei, der eine war eine Sexbox, der andere eine Bananenschalensammelstelle. Nach dem Termin lief ich noch kreuz und quer durch die Stadt, aber ohne Erfolg. Im Postmuseum beugten sich zwei hilfsbereite Historiker über meinen Brief, schüttelten dann aber nur den Kopf.

Also nahm ich den letzten Zug nach Bern zurück. In Olten, so mein Plan, wollte ich die Notbremse ziehen, schnell aus dem Zug springen, den Brief einwerfen und mit Unschuldsmiene wieder einsteigen. So tat ich es auch. Allerdings war der Briefkasten nicht mehr da. Nur ein graues, dreckiges Viereck mit vier Schraubenlöchern war noch an der Wand zu erkennen. Auch der war also unterdessen der Sparwut zum Opfer gefallen. Der gelbe Fiese hatte wieder zugeschlagen. Auf Gleis 1 sammelte sich bereits der erste Protestzug.

Mein Zug war unterdessen, als ich konsterniert vor dem Viereck gestanden war, abgefahren. Zum Glück wusste ich ja dank der Anschrift auf dem Brief, wo mein Freund wohnte, und nahm den halbstündigen Weg zu ihm unter die Füsse, warf dort den Brief direkt ein und nahm mir anschliessend ein Zimmer im Hotel zur Post.

Als ich am nächsten Morgen wieder heimkehrte, fand ich in meinem Briefkasten eine handschriftliche Notiz von meinem Freund, er habe mich gestern Abend gesucht. Seit kurzem wohne er ganz in der Nähe und hätte seinen erfolgreichen Umzug bei einem Gläschen Wein mit mir feiern wollen. Ich habe ihm dann per SMS geantwortet.
Aedes aegypti

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