Ein Kater namens Sidi Brahim

Aliens

Jetzt sind sie da!

Seit Monaten war die Rede von ihnen. Erst flüchteten sie über das Mittelmeer nach Süditalien. Die grausamen Bilder ertrunkener Kinder bewegten auch unser Innerstes. Dann wurde das Mittelmeer abgeriegelt, damit nicht noch mehr Bootsunglücke passieren. So kamen sie über die Balkanroute ins freie Europa. Das wurde zwar immer unfreier. Die vormals grossmütig aufgehobenen Grenzen wurden mit Stacheldraht neu gezogen, trotzdem fanden sie ihren Weg, in immer grösseren Mengen. Nach Österreich, Deutschland, Schweden. Wieder Bilder. Die machten uns wieder Mitleid, aber auch Angst. Nur real wurden sie noch nicht.

Erst seit ein paar Wochen haben sie auch unser Land entdeckt. Es galt lange als unattraktiv, wegen unserer Regeln und Gesetze, die zu streng seien. Da waren wir insgeheim ein bisschen stolz darauf. Dass wir sie haben und dass wir sie halten. Nicht unser Problem, sondern das von diesem freien Europa. Von diesem Europa, in welchem wir gerne Ferien machen und mit dem wir auch ein bisschen handeln, das uns aber sonst etwas fremd bleibt, in seiner Grenzenlosigkeit irgendwie unfassbar. Ja, wir können ihre Sprachen, die Sprachen dieser Europäer. Aber ihre Herzen und Köpfe kennen wir nicht. Schon innerhalb unseres Landes sind die Unterschiede so gross, dass wir uns häufig genug nicht verstehen und Gräben oder Berge ziehen müssen. Eine Reise durch den Gotthard ist für uns immer noch irgendwie Abenteuer. Trotzdem: Jetzt sind sie da.

Es sind aber keine Tessiner oder Romands, mit denen wir bisweilen trotz aller Gräben und Berge verbandelt sind. Auch keine Franzosen, mit denen wir im Urlaub auch schon gesprochen haben. Keine Italiener, die am Strand genauso rot oder braun aussehen wie wir. Keine Deutschen, mit
denen wir zu unserem Erstaunen in unserer Sprache sprechen können. Keine Iren, mit denen wir im Pub über einem Guiness über Gott und die Welt philosophiert haben. Es sind Syrer, Iraker, Afghanen, Mars­men­schen. Sie sprechen Sprachen und glauben Religionen, die wir nicht verstehen. Mit Befremden stellen wir fest: sogar die Europäer verstehen sie nicht. Und jetzt sind sie da.

Aber wo? Die Betten in ehemaligen Schulen, Spitälern, Luftschutzbunkern, Ferienheimen füllen sich. In der Nachbarstadt finden sie keine mehr und leben schon auf der Strasse. Sogar in unserem Dorf geht nächsten Monat eine Notunterkunft für sie auf. Das ist aber seltsamerweise kein Thema auf der Strasse, unter Nachbarn. Wir sehen sie immer noch nicht, sogar dann nicht, wenn sie in seltenen Momenten an unserem Haus vorübergehen. In unser Haus lassen wir sie nicht. Sie sind abstrakt, aber jetzt sind sie da!

Dass wir sie nicht sehen: Das steckt langjährige Schulung und Organisation dahinter. Wir sehen ja auch nicht die Leute mit Behinderungen, die in unserem Land geboren werden, wie in jedem anderen. In unserer hochzivilisierten humanen Gesellschaft leben diese in Heimen, unter professioneller Betreuung und Förderung. Gelegentlich machen sie Ausflüge in die Welt Schweiz, aber immer in Begleitung und zu Zeiten und an Orte, an welchen wir ihnen möglichst nicht begegnen. Oder die Familien, die keine Arbeit haben oder mit der Arbeit kaum genug verdienen, arm sind. Auch die gibt es in unserem Land. Aber sie wohnen in Häusern. Wir sehen sie nie, wenn wir an diesen Häusern vorbeigehen. Auch nicht, wenn wir ins Restaurant gehen, ins Kino, ins Konzert oder wandern in den Bergen. So sehen wir auch nicht diese neuen Andersartigen, die auf der anderen Strassenseite vorübergehen und uns nicht ansprechen. Wir sprechen sie auch nicht an, wie denn?

Alles Fremde ist uns fremd. Es berührt uns nicht, wir sehen es nicht, wir fühlen es nicht. Wir wissen noch nicht einmal, ob wir Angst
vor ihm haben, so fremd ist es uns. Hat es Angst vor uns? Gefährlich sieht es eigentlich nicht aus. Nur manchmal haben wir ein mulmiges Gefühl, wenn wir Bilder sehen von Bomben, die plötzlich in Europa hochgehen. Dann fragen wir uns: Hat das was mit diesen Fremden zu tun? Hat das was mit uns zu tun? Bringen die auch Bomben zu uns? Wird das jetzt doch gefährlich? Dann fühlen wir uns plötzlich nicht mehr ganz so sicher. Wir gehen noch weniger in die Stadt. Wir gehen noch weniger in Restaurants, ins Kino, ins Konzert, wo es Menschen hat.

Jetzt sind sie da. Aber wir wissen nicht, was sie sehen, fühlen, denken. Wir wissen ja auch nicht, was wir sehen, fühlen, denken. Über sie. Über uns. Wer sind wir? Fremde?

Sie sind unter uns. Aber sie sind nicht mit uns. Sie dürfen in unserem freien Land sein. Aber sie dürfen nicht reden mit uns. Sie dürfen nicht arbeiten, spielen, lachen mit uns. Sie dürfen nicht leben mit uns. Sie sind gefangen. So wie die Behinderten. So wie die Armen. So wie wir. Wer sind wir? Wir sind die Gefangenenwärter. Wir sind die Gefangenen. Wir sind frei, alles zu tun und zu machen, was wir wollen. Und wir tun und machen immer das Richtige. Wir können nicht anders. Wir sind das gewohnt.

Sie sind das vielleicht nicht gewohnt. Sie reden, arbeiten, spielen, lachen anders. Vielleicht falsch? Wir wissen nicht einmal das. Sie kommen aus Ländern, in denen sie auch Gefangene waren, flüchteten aus der Gefangenschaft. Zu uns. Auf der Flucht waren sie frei. Jetzt nicht mehr.

Jetzt sind sie da!

Sollen wir neu lernen? Lernen zu sehen? Lernen anders zu reden, zu arbeiten, zu spielen, zu lachen? Lernen keine Angst zu haben? Frei zu sein? Sollen wir uns kennenlernen?
l'Etranger

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