Ein Kater namens Sidi Brahim

Liliane Sausewind in der Kammer des Schreckens

Unsere Familie gehört zur kleinen Minderheit, die keinen Fernseher besitzt, weil wir keine Zeit und keinen Platz für den Fernseher haben. Wie klein diese Minder­heit ist, stellte ich letzthin fest: rund 7 Prozent. Laut Bundesamt für Statistik schauen die Schweizer durchschnittlich 2-3 Stunden täglich fern. Bei einer Lebens­er­war­tung von rund 83 Jahren sitzt der Schweizer also rund 8 ½ Jahre seines Lebens vor der Glotze. Verglichen dazu nimmt sich das dreiviertel Jahr, das er in der 9-jährigen Schulzeit effektiv hinter der Schulbank verbringt, um das Rüstzeug fürs Leben, pardon fürs Fernsehen zu erlernen, ziemlich bescheiden aus. Das ist aber kein Grund zum Erschrecken: Der Durchschnitts­amerikaner verbringt 15 ½ Jahre seines Lebens vor dem Fernseher und frisst in dieser Zeit rund zwei Tonnen Fleisch vorwiegend in Rinder­hack­steak­form zwischen zwei Laberbrötchen eingeklemmt. Die übrigen 64 Jahre schaut er nicht fern, aber isst immer noch Fleisch (nochmal fast 8 Tonnen). Zum Glück für die Rinder lebt er vier Jahre weniger lang als ein Durch­schnitts­schweizer. Würden die Amerikaner solange leben wie die Schweizer, so würde die amerikanische Bevölkerung in diesen vier Jahren zusammen nochmal so lange fernsehen, wie eine Weinbergschnecke braucht, um 8 Mal von der Erde zur Sonne zu kriechen und zurück bei einer Geschwin­digkeit von 7 cm pro Minute, und dabei 153 Millionen Tonnen Fleisch essen (die Amerikaner, nicht die Schnecke), das entspricht einem vollbeladenen Güterzug, der viermal um die Erde geht. Wenn man nicht fernsieht, hat man Zeit, solche erleuchtenden Statistiken auszurechnen. Wenn man fernsieht, kommt man höchstens dazu, die eigene Schulbildung zu verdauen. Es ist auch naheliegend, dass die Amerikaner oder die Schweizer, wenn sie in dieser Zeit nicht fernsehen und Fleisch essen, viel dümmere Sachen machen könnten, z.B. fliegen, Bomben basteln oder Kartoffelschäler erfinden. Aber wer will sich
schon jeden Tag mit einem anderen Kartoffelschäler in die Finger schneiden, also ist Fernsehen doch gar nicht so blöd.

Aber es macht blöd, faul und dick, wie Forscher, die zu wenig fernsehen, herausgefunden haben wollen. Es gibt aber auch positive Aspekte: amerikanische Kids haben bis zum Grundschulabschluss rund 8000 Morde gesehen. Zusammen mit dem in der Verfassung verankerten Recht, eine Waffe zu besitzen, haben die Amerikaner zur Freude der Rinder ein wirkungsvolles Instrument der postnatalen Geburtenkontrolle.

Was man angesichts der Schelte an den Auswirkungen des normalen exzessiven Fernsehkonsums gerne vergisst, ist dass auch andere Medien Krankheitsbilder erzeugen. Zum Beispiel Bücher. Besonders Kinderbücher. Die krankhafte Konsumsucht von bedrucktem Papier beginnt typischerweise zwar erst später im Leben als die Teleplegie, hat aber umso dramatischere Ausmasse. Nachdem unsere Tochter Eva lesen gelernt hatte, hat unsere Schulbibliothek ihre Selbständigkeit aufgeben und sich den städtischen Kornhausbibliotheken anschliessen müssen, um an genügend Nachschub zu gelangen. Der Belag der Kalchackerstrasse musste saniert werden, da er wegen regen Büchertransporten zu bröckeln begonnen hatte. Aber nicht nur die strukturellen Auswirkungen, auch die sozialen und gesundheitlichen sind enorm. Schon in der Anfangsphase konnten wir an unserer Tochter eigenartige, wenn auch nicht lebensbedrohliche Symptome beobachten, so zum Beispiel etwa Stutenbissigkeit nach dem "grünen Klassenpferd" von Winfried Bruckner, Frühlingsmüdigkeit bei Karl May oder eine erhöhte Neigung zu Flatulenz nach der Lektüre von Liliane Sausewind. Eher liebenswert wirkte sich die Buchlimie aus, die Neigung, tonnenschwere Wälzer zu fressen und in stundenlangen Nacherzählungen auf Wanderungen wieder von sich zu geben. Die Tintenwelt wurde so auch zu unserer Welt.

Später führte dann der intensive Kontakt mit der Welt des geschriebenen Wortes zu
zunehmenden Kontaktschwierigkeiten mit der realen Welt. Wenn wir zum Essen riefen, schaute unsere Tochter bestenfalls leicht irritiert von ihrem Buch auf. In ihrem Gesicht sahen wir dann aber nur drei grosse Frage- und keinerlei Freizeichen. Häufig schafften wir es nur mit letzter Kraft, sie aus einem Funke-Loch oder einer Wolfgang-Ecke herauszuzerren.

Dann war Ostern. Also im übertragenen Sinn: Das Fest der Bücher. Bleich und mit in sich gekehrtem Blick schwebte Eva auf einem Besen durch die Wohnung, dramatische Abenteuer durchlebend. An allen Orten waren Bücher versteckt, so dass sie sich nie lesestofffrei durch das Haus bewegen musste: Beim Zähneputzen wurde gelesen, beim Schuhe aus- und Pyjama anziehen, beim Teeeinschenken und auf dem Klo. Als wir das Buch hinter der Kloschüssel entdeckten, waren wir erleichtert, dass die stundenlangen Sitzungen in der Kammer des Schreckens nicht eine Form von Konstipation waren, sondern vielmehr Konspiration mit Gryffindor – oder doch eher von Ravenclaw? Die Geräusche beim Ertapptwerden erinnerten uns stark an die Maulende Myrthe. Gelegentlich haben wir die Bücher ausgetauscht, um ihr einen Streich zu spielen. Goethe und Schiller funktionierten nicht, aber die gelben Seiten konnten wir erfolgreich unterjubeln: Seither brauchen wir nicht mehr nachzuschlagen, sondern nur noch Hermine zu fragen: Kennst du die Nummer eines Klempners in der Länggasse? Trotzdem: Wo sollte das enden?

Der Kinderarzt diagnostizierte dann eindeutig ein Show-Down-Syndrom. Späte, papierförmige Ausprägung, pränatal nicht diagnostizierbar. Seither beziehen wir IV und eine papierlose 65-Zoll-Ultra-HD-Therapie.
Pippi Stützstrumpf und die lahmen Hühner

>bilder
>home >archiv