Ein Kater namens Sidi Brahim

SgKgMBHöRexit

Wie einfach hatten es doch die Briten. Die mussten einfach Ja zum Nein zur EU stimmen. Oder war es Nein zum Ja zur EU? Jein zur EU? Ja zum Brexit oder Nein zum Bremain? Ich hoffe, sie wussten es. Dass sie vom Ausgang der Abstimmung überrascht waren, zeugt nicht unbedingt dafür. Kein Wunder: Die Briten besitzen ja auch keine Erfahrung in direkter Demokratie.

Wir haben diese Erfahrung, waren aber auf nationaler Ebene auch schon häufig genug stark gefordert, wenn wieder mal eine Variantenabstimmung über einen Gegenvorschlag zu einer Volksinitiative oder ein Volksvorschlag zu einem konstruktiven Referendum mit Stichfrage anstand. Wenn dann wieder mal eine Frage zur Abstimmung steht wie "Wollen Sie die Initiative zum Verbot der Abschaffung des Referendums in der direkten Demokratie nicht annehmen oder den Gegenvorschlag des Parlaments zur Abschaffung des Verbots des Referendums in der direkten Demokratie ablehnen, Ja oder Nein? Wenn Initiative und Gegenvorschlag beide nicht abgelehnt werden, wollen Sie dann lieber die Initiative oder den Gegenvorschlag ablehnen oder Kegeln gehen?" muss anschliessend Claude Longchamp wieder langwierige Analysen machen, was denn nun eigentlich gewollt war. Daher haben wir auch eine relativ grosse politische Stabilität, weil man das ja in der Regel nicht so schnell rausfindet. Bis heute weiss man ja nicht, ob, wie, wieso, wann und welches Schweinderl hätten Sie denn gern man die Massen­einwanderungsinitiative umsetzen soll.

Definitiv nur noch für hartgesottene Experten, Kriegsversehrte und Psychologiestudierende ist jedoch die direkte Demokratie auf Gemeindeebene, wie ich sie am 6. Juni 2016 in Bremgarten erleben durfte. Da gilt: je direkter, desto anstrengender. Das unscheinbare Traktandum eines wiederkehrenden Kredits für die Förderung von nachhaltiger Energie und des Energiesparens im Zusammenhang mit dem Energiestadt-Label, welches unsere Gemeinde erlangen will, war wider Erwarten umstritten. Da das Publikum überschaubar war, war es auch die Hemmschwelle, sich öffentlich dazu zu äussern, so dass diverse Votanten den Gang ans Mikrophon wagten und ihren Mut dazu nutzten, spontan jeweils gleich mehrere Anträge dazu zu formulieren. Worauf der Gemei­nde­rats­präsident die dankbare Aufgabe hatte, diese Anträge in eine sinnvolle Reihenfolge zu bringen, was ihn sichtlich forderte. So waren da drei Rück­weisungs­anträge mit unterschiedlicher Formulierung, was denn zu überarbeiten sei, auf dem Tisch, von denen einer mehrmals umformuliert und ein zweiter schliesslich zurückgezogen wurde. Es blieben zwei Rück­weisungs­anträge. Also
musste man erst einmal darüber abstimmen, auf welchen Rück­weisungs­antrag einzutreten bzw. welcher Nicht­eintretensantrag zurückzuweisen sei, da man ja nicht mehr als einen Rück­weisungs­antrag annehmen kann. Die Abstimmung zeigte deutlich genug, dass auch der Gemeinde in dem Moment nicht klar war, worüber sie nun abstimmte, da beide Anträge nur wenige Stimmen erhielten. Es herrschte vermutlich die irrige Meinung vor, dass man bereits über die Rückweisung des Geschäfts in verschiedener Form abstimmte. Diese zweite Abstimmung über den verbleibenden Nicht­eintretensantrag erfolgte aber erst danach und endete blümchenmusterhaft mit einem Patt, also Stimmgleichheit, worauf der Gemeinde­rats­präsident in einem Stichentscheid entschied, auf den Nicht­eintretensantrag, auf den einzutreten zuvor mehrheitlich angenommen wurde, nicht einzutreten bzw. auf das eigentliche Geschäft einzutreten. Während die ersten Gemeindebürger anfingen, unruhig auf ihren Stühlen herumzudrucksen, wohl in der Meinung, die Versammlung sei nach so vielen Abstimmungen fertig, und weil ihre Hintern aufgrund dieser Treterei langsam schmerzten, ging es weiter: Es gab weitere Anträge, nämlich das Geschäft abzulehnen, das Geschäft unbefristet anzunehmen oder das Geschäft nur befristet zu bewilligen. Also musste erst noch mal darüber abgestimmt werden, über was man danach abstimmen würde, nämlich über die unbefristete oder befristete Bewilligung des Kredits. Nachdem dies geklärt war, stimmte man über die befristete Bewilligung ab und nahm sie an bzw. lehnte damit auch den Antrag zur Ablehnung des Geschäfts implizit ab, über den man aus Effizienzgründen stillschweigend gar nicht erst abgestimmt hatte. Mit nur vier Abstimmungen zu einem Entscheid in diesem Geschäft zu gelangen, wird wahrscheinlich als Weltrekord der Entropie in das Guinness-Buch, am Stammtisch oder an irgend einer anderen biergeprägten Plattform eingehen, wenn es nicht zu einer Beschwerde wegen Verfahrensfehlern kommen wird, in welchem Fall noch die Abstimmung über das Nichteintreten auf die Beschwerde, eine Abstimmung über die Beschwerde selber und natürlich - bei deren Annahme - neben der Wiederholung aller bereits getätigten Abstimmungen - die unterschlagene Abstimmung über die Ablehnung des ursprünglichen Geschäfts hinzukämen, was das Stimmvolk wohl mit einem Krampf im rechten Arm bestrafen müsste (man weiss ja, zu was das führt!), die Energieeffizienz der Gemeinde aber wohl nicht gross steigern und den Weltrekord zunichtemachen würde.

Verfahrenstechnisch etwas unkomplizierter, ja populärer, ging es dann im letzten Traktandum der Gemeindeversammlung (ja, da sind wir immer noch!) "Diverses" zu und her, bei dem alle froh waren, dass nicht mehr abgestimmt werden musste und das Mikrophon auf der Frustbühne für alles offen
war. Das war eine Wundertüte voller kleiner und grosser Sorgen aus der Bevölkerung. Nach diversen nachvollziehbaren Klein- und Kleinstanliegen - einem Antrag für einen neuen Sonnenschirm für die Tagesschule, die Frage, wo man das Antragsformular für die Einspeisevergütung von Hamsterradstrom einreichen müsse und der Forderung, die Einkaufswägeli vor dem Migros ordentlich so zu deponieren, dass alle Reihen gleich lang sind - trat die Selbsthilfegruppe Kampf gegen Müll aus Bremgartens Haushalten im öffentlichen Raum (SgKgMBHöR) auf den Plan. Immer wieder komme es vor, dass Müllsäcke nicht ordnungsgemäss bereits am Sonntag auf die Strasse gestellt würden, statt erst am Montagmorgen. Mit dem Ergebnis, dass der Müll dann von allerhand nicht ordnungsgemäss ausgerotteten Tieren vorgezogen entsorgt werde, naturgemäss nicht besonders ordentlich. Der Vertreter der Selbsthilfegruppe erklärte, dass er klar beobachtet habe, dass für dieses Verhalten jedoch nicht die häufig verdächtigten immigrierten Stadtfüchse verantwortlich seien, genauso wenig wie die Einwohner des Altersheims oder die Dorfjugend. Sein betont ordnungsgemäss erst am Montagmorgen rausgestellter und etikettierter Sack nämlich sei bereits nach einer halben Stunde von nicht etikettierten Krähen aufgepickt worden, wie er selber beobachtet habe. Leider unterliess es der Votant zu erwähnen, was der Gemeinderat mit dieser Aussage anfangen solle. Sollte eine MüSaPo ins Leben gerufen werden? Eine Bürgerwehr? Sollte die Müllabfuhr auf den Sonntag verlegt werden? Die Gemeinderatslöhne existenzsichernd erhöht werden? Eine Mitbürgerin bekräftigte die Klage über die Müllverwahrlosung der Gemeinde mit der Bemerkung, sie habe sogar an Muttertag, also einem Sonntag, dreizehn laut tratschende Müllsäcke direkt vor ihrem Balkon beobachten können. Der Lärm und der Unrat seien durch das danach erfolgte beherzte Eingreifen von Krähen, Füchsen und Gemeinderäten auch nicht kleiner geworden. Es folgten noch einige weitere Voten von selbsternannten Kehrichtern, bis endlich die Gemeindeversammlung nach fast zwei Stunden geschlossen werden konnte. Draussen war es bereits dunkel - die ideale Gelegenheit für alle heimkehrenden Gemeindebürger sich heimlich über die Müllsäcke herzumachen, und zwar direkt und undemokratisch.

Der Autor möchte festhalten, dass die Aussagen nicht alle wortgetreu wiedergegeben wurden, da seine Notizen auf dem Heimweg von der Gemeindeversammlung von wildernden Kehrichtsäcken entwendet wurden.
Herr Müller aus Chüderfan

>bilder
>home >archiv