Ein Kater namens Sidi Brahim

Benjamin

Vor zwei oder drei Jahren ging Eva frühmorgens mit langen Hosen zur Schule und kam mittags mit kurzen Hosen wieder heim. Mit diesen Wachstumsschüben umzugehen war noch einfach, waren doch immer bereits getragene Kleider ihrer etwas älteren besten Freundin Lia vorrätig, die wir auch regelmässig einladen und mästen, damit wieder Kleider frei werden. So konnte Eva am nächsten Morgen wieder mit langen Hosen zur Schule, und meistens hielten die auch bis mittags. Damals konnten wir sie auch noch problemlos mit allen Second-Hand Kleidern behängen wie eine Vogelscheuche, sie war mit allem glücklich und sah aus wie eine blonde verwegene hübsche Jungacht­und­sechzigerin darin. Kleider mussten einfach nur genügend Löcher haben zum Ein- und Aussteigen, und man konnte sie damals sogar im angetragenen oder gar schmutzigen Zustand tragen. Was Eva nicht mehr passte, mussten Hausschwein Günther, die Teddybärin Mia und die übrigen Stofftiere austragen, bis es auch denen zu klein wurde.

Im Unterschied zu damals lässt sich Günther das heute nicht mehr gefallen. Er konnte wohl einfach nicht mit den Wachstumsschüben von Eva mithalten. Früher konnte man ja mit Kinderunterhosen noch süsse Hütchen für ihn bauen, da war Eva noch sein anbetenswertes Vorbild, heute rutschen ihm die über die Augen. Ausserdem können einmal ange­tragene Kleider unmöglich ein weiteres Mal getragen werden und werden einfach in die nächste Ecke gepfeffert. Zusammen mit seinem ausgeprägten Hang zu «Messies sans frontières» sah Evas Zimmer und bald auch
die Wohnung aus wie die Wühlkiste bei Otto’s im Jahresendverkauf. Überall lagen einmal gebrauchte Socken und Unterhosen, T-Shirts und andere Kleidungsstücke herum. Auf dem Badezimmerboden, über der Ständerlampe und dem Ficus Benjamini und auf dem Gratin1. Nachdem ich beim Frühstück erstmals einen Socken aus dem Kaffee rausfischte, beschloss ich, Günther zur Rede zur stellen. Er tat natürlich ganz unschuldig, während es aus dem hinteren wegen Kleiderbergen nicht einsehbaren Teil des Kinderzimmers heraus kicherte. Da kamen wir dann der eigentlichen Übeltäterin schnell auf die Schliche. Es war nicht die Teddybärin!

Leider hat Eva nicht nur eine ordentliche Leidenschaft zur Unordnung entwickelt, sondern auch den Anspruch, chic angezogen zu sein. Und die chicen Kleider sind ja immer zuunterst im Stapel, was dann eben einen grossen zimmerfüllenden Faltenwurf verursacht, also sozusagen eine Win-Win-Situation darstellt. Die Begrenzung der Höhe der Kleiderberge wird nur dadurch sichergestellt, dass der Weg zum Spiegel begehbar sein muss. Das soll angeblich mit ihrem Alter zusammenhängen, haben uns Bekannte mit etwas älteren Kindern versichert. Wir sind also zuversichtlich, dass sie da wieder rauswächst, so wie aus ihren Kleidern und so wie ihre Eltern, die den Faltenwurf unterdessen dermatologisch und damit regional begrenzt praktizieren. Ich jedenfalls finde die Frage, was ich heute anziehen soll, eher bemühend und stelle sie mir dementsprechend auch selten, meistens auf Aufforderung der Familie hin. Letzthin sollte ich frische Socken anziehen, fand aber in meiner Sockenkiste Evas Strumpfhosen vor

1Einwandfrei als Reste eines Lady-Gaga-Kostüms identifiziert.
und keine Socken. «Ich brauch Platz für meine Kleider, und du trägst doch eh immer dieselben Socken» war Evas Meinung dazu. Das stimmt. Nur waren die jetzt gerade in der Wäsche oder auf Ebay. So musste ich halt über Weihnachten sockenlos rumlaufen, da ja die Läden zu waren und die alten halt wirklich, naja. Und meine Frau verträgt es absolut nicht, wenn es mieft in der Wohnung. Also lieber sockenlos in einer warmen Wohnung rumlaufen als mit Stinkesocken in einer dauerbelüfteten unterkühlten Wohnung. Das war auch eine bescheidene Form von Solidarität für Eva – sie ist ohne Hosen dagestanden, weil gerade alle 15 Jeans in der Wäsche waren. Und damit meine Tochter eine genügende Auswahl an tragfähigen Textilien hat, nehme ich doch sowieso jedes Opfer auf mich2.

Die Triage zwischen gebrauchsfertigen, gebrauchsfertigen aber situationsgebundenen oder nur in bestimmten Kombinationen tragbaren, noch nicht gebrauchsfertigen und nicht mehr gebrauchsfertigen weil zu kleinen oder zu unchicen Kleidungsstücken mit unterschiedlichen potentiellen Weitergabe-Empfängern ist eine Angelegenheit von epochaler Ausdehnung. Am Wochenende, wenn die Post nicht arbeitet, dürfen wir jeweils die Sortieranlage des Paketzentrums Härkingen dazu nutzen, was uns viel Zeit erspart. Am Montag gehen dann Päckchen in alle Welt hinaus, und wir sehen endlich wieder aus der Wäsche.
Waschbär

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2Manche von euch haben mich im Winter auch schon in der Badehose gesichtet, jetzt wisst ihr wieso.